Ausgabe April 2014

Syrien und die neue Al-Qaida-Achse

Die blutigen Auseinandersetzungen in Syrien zwischen dem autoritären Regime von Baschar al-Assad und verschiedenen oppositionellen Gruppen dauern nun schon drei Jahre an. Aus dem (zunächst) zivilen Aufstand gegen das repressive Regime ist ein brutaler Bürgerkrieg mit mehr als 100 000 Toten geworden, bei dem schon lange nicht mehr eindeutig zu sagen ist, wer auf wessen Seite kämpft. Von staatlicher Ordnung kann keine Rede mehr sein, vor allem Kinder leiden unter den Folgen: Sie werden nicht medizinisch versorgt, können nicht zur Schule gehen.

Dabei breitet sich der Konflikt zunehmend auf die gesamte Region aus. Mehr als 2,4 Millionen Syrer sind inzwischen in die umliegenden Länder geflohen. Auch die militanten, zumeist islamistischen Kampfgruppen machen nicht an Staatsgrenzen halt: Sie sind regional vernetzt und stützen sich auf Stammesverbindungen, die viele Jahrtausende alt sind und die Gründung der modernen Nationalstaaten Libanon, Syrien und Irak überdauert haben. Die traditionellen, grenzüberschreitenden Stammesstrukturen der Region paaren sich auf diese Weise mit der „internationalistischen“ Ideologie von Al Qaida. Je länger der Konflikt anhält, desto größer wird die Gefahr, dass er einen ethnischen und religiösen Flächenbrand in der gesamten Region entfacht.

Regionales Flüchtlingsdrama

Besonders betroffen ist Libanon, der kleine Nachbar Syriens. Dort ist inzwischen jeder vierte Bewohner Syrer. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) gibt es bereits mehr als 850 000 registrierte Flüchtlinge oder solche, die den Registrierungsprozess eingeleitet haben. Viele leben in behelfsmäßig errichteten Flüchtlingslagern in den Grenzgebieten unter unmenschlichen Bedingungen – in Wellblechsiedlungen mit Wänden und Dächern aus zusammengezimmerten Holzpaletten und verklebten Plastiktüten und -planen. Offizielle, von den Vereinten Nationen betriebene Flüchtlingslager gibt es in Libanon nicht.

Der gesellschaftliche Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften stützt sich in Libanon auf ein sehr labiles Gleichgewicht. Der Staat, der infolge der Zerschlagung des Osmanischen Reichs nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entstanden ist, versucht, all diese Gemeinschaften in einem komplizierten politischen System zusammenzuhalten. Unter vielen Libanesen herrscht blanke Angst davor, dass die syrischen Flüchtlinge bleiben – und dieses Gefüge durcheinanderbringen könnten. Auch deshalb gibt es in Libanon keine offiziellen Lager für syrische Flüchtlinge, sondern nur „nicht-dauerhafte Siedlungen“. Der Vorteil dieses Systems ist, dass sich die Flüchtlinge frei im Land bewegen und arbeiten können, wenn die Behörden ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung erteilen, was in der Regel geschieht. Solange Libanon die Grenze zu Syrien offen hält, werden die Bürgerkriegsflüchtlinge dort Zuflucht suchen.

Nicht nur Anzahl und Lage der syrischen Flüchtlinge in Libanon werden zunehmend unüberschaubar, sondern auch deren Aktivitäten. Unbestritten ist, dass immer mehr Kämpfer einsickern können, die der militanten Al Qaida anhängen. Allen voran stehen jedoch die Bewaffneten der dschihadistischen Nusra-Front. In Libanon haben die Kämpfer dieser Organisationen leichtes Spiel. Zwar sind Al Qaida und all ihre Verästelungen in Libanon verboten, ihre syrischen Kämpfer können jedoch unter den Flüchtlingen abtauchen – sei es in normalen Privatwohnungen oder Häusern, sei es in nicht-dauerhaften Siedlungen.

In letzter Zeit kamen vermehrt Kämpfer der Nusra-Front ins Land, um dort Attentate zu verüben. Seitdem der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, öffentlich erklärt hatte, dass die Hisbollah-Milizionäre in Syrien auf der Seite von Syriens Präsident Assad kämpfen, richten sich die Angriffe der Nusra-Front vor allem gegen deren schiitische Anhängerschaft.

Faktisch teilt sich Libanons Bevölkerung in zwei ideologische Lager: das für Baschar al-Assad und das gegen ihn. Ein Beispiel sind die Ortschaften Hermel und Arsal in den Bergen dicht an der Grenze zu Syrien. Die Assad-nahe Hisbollah kontrolliert Hermel, ihre Milizionäre passieren hier die Grenze nach Syrien. In Arsal hingegen, nur wenige Kilometer von Hermel entfernt, wohnen überwiegend Sunniten. Daher gilt Arsal als sicherer Übergang für nahezu alle Untergrundkämpfer des Anti-Assad-Lagers. Die regulären Sicherheitskräfte halten sich heraus, wenn Kämpfer beider Lager zwischen Libanon und Syrien pendeln; weder Armee noch Polizei machen auch nur den Versuch, sie zu verhaften.

Im Ergebnis greifen staatliche Strukturen in Libanon schon lange nicht mehr, dafür sind in den vergangenen Jahren Zugehörigkeiten zu Familien und Religionsgemeinschaften immer wichtiger geworden. Der Krieg in Syrien macht dieses Phänomen nur offensichtlich: Denn nicht nur Libanon, sondern den Ländern der gesamten Region droht die Entstaatlichung – und die wiederum ist der Humus, in dem Al Qaida vortrefflich gedeiht.

Islamistische Radikalisierung

In Syrien ist diese Entstaatlichung schon längst viel weiter fortgeschritten. Die Nusra-Front ist in Syrien besonders aktiv, wie auch ISIS – die Organisation „Islamischer Staat im Irak und (Groß-)Syrien“ – wobei Groß-Syrien programmatisch zu verstehen ist, nämlich Teile Jordaniens, Palästina, Libanon und eben Syrien meint. Dazu gründen täglich Untergrundkämpfer neue Brigaden. Dabei nimmt die Zahl derer ab, die sich als eher liberal oder säkular verstehen. Die Gründungserklärungen neuer Gruppierungen, ganz gleich ob sie von Kräften in Saudi-Arabien, der Türkei oder Katar unterstützt werden, ähneln häufig dem, was von Al Qaida bekannt ist: Sie kämpfen für ein radikales Islambild und gegen die regulären Einheiten und Milizen Assads. Je länger der Krieg in Syrien andauert – und je weiter damit die Entstaatlichung Syriens fortschreitet –, desto mehr Militante aller Art werden angezogen. US-Geheimdienstbehörden schätzen deren Zahl auf 75 000 bis zu 110 000, die in rund 1600 Gruppen organisiert sind, andere Einschätzungen gehen von weit höheren Zahlen aus. Klar ist, dass militante Islamisten mittlerweile ganze Dörfer und Städte unter ihre Kontrolle gebracht haben, in denen sie der Bevölkerung ihre Interpretation des islamischen Rechts aufzwingen. Zunehmend beherrschen dschihadistische Gruppen auch Öl- und Gasfelder im syrisch-irakischen Grenzgebiet und kontrollieren den Rohstoffhandel in der Grenzregion.

Und jenseits der syrischen Grenze, auf der anderen Seite, im Irak, bietet sich ein ähnliches Bild. Dort nahmen Kämpfer von ISIS Ende 2013 nach heftigen Auseinandersetzungen mit regulären irakischen Einheiten Falludschah und Ramadi ein, zwei strategisch wichtige Städte in der Provinz Anbar im Westen des Irak. Infolgedessen schreitet die Entstaatlichung dort immer mehr voran, zudem haben die bis heute andauernden Kämpfe fast eine halbe Million Menschen in die Flucht getrieben.

Einige Iraker sehen die Ursachen der Entstaatlichung in ihrer eigenen Führung. Viele machen den irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki für die Spaltung zwischen schiitischer Mehrheit, der er selbst angehört, und sunnitischer Minderheit verantwortlich. Maliki schließe die sunnitische Minderheit von politischer Teilhabe aus, heißt es, obwohl er nach den Parlamentswahlen 2009 der sunnitischen Minderheit eine Einbindung in die Regierung zugesagt hatte. Heute ist Maliki nicht nur Regierungschef, sondern gleichzeitig Innen- und Verteidigungsminister, Geheimdienstchef und Oberbefehlshaber der irakischen Streitkräfte. Entsprechend säßen in den irakischen Gefängnissen, ähnlich wie unter Saddam Hussein, mehr Sunniten als Schiiten – so Malikis Kritiker. Während dies nach dem Abzug der Amerikaner Ende 2011 Proteste unter seinen sunnitischen Gegnern hervorrief, brachte es Al Qaida Sympathisanten. Nach ein paar Jahren relativer Ruhe im Irak stieg die Zahl der Anschläge wieder.

Die Radikalisierung islamistischer Gruppen ist in der ganzen Region zu beobachten – wer auf der Landkarte eine Linie zieht, wird feststellen, dass von den Stadttoren Beiruts bis nach Bagdad Al Qaida oder ihr nahestehende Gruppen zu einer echten Größe geworden sind. Dabei spielt es keine Rolle, dass sie sich zwischenzeitlich gegeneinander wenden – und dann wieder miteinander verschmelzen. In manchen Gebieten haben die militanten Islamisten gar die jeweilige Staatsgewalt abgelöst und die Macht übernommen – mit eigener Rechtsprechung, Verwaltung und Kontrolle der Ressourcen. Sie stützen sich auf ebenjene Stammesverbindungen und Familienbande, die ihren Angehörigen im Falle von Krankheit, Hunger, Arbeitslosigkeit oder Alter Sicherheit bieten.

Künstliche Grenzen: Das Sykes-Picot-Abkommen

Eine, wenn nicht die entscheidende Ursache für das Aufleben alter Stammesstrukturen liegt bald 100 Jahre zurück: Fast alle Grenzen im Nahen Osten sind künstlich geschaffen worden – vereinbart im Sykes-Picot-Abkommen von 1916. Der britische Politiker Mark Sykes und der französische Diplomat François-Georges Picot arbeiteten das Geheimdokument während des Ersten Weltkriegs aus, indem sie für die Zeit nach dessen Ende ihre Gebietsansprüche im sich auflösenden Osmanischen Reich aufteilten. Mit dem Lineal zogen sie die Grenzen der heutigen Staaten im Nahen Osten, auf Familienbindungen nahmen sie dabei keine Rücksicht. Deshalb leben bis heute Stämme und Großfamilien verteilt auf die Länder – von Libanon über Syrien bis in den Irak und bis nach Saudi-Arabien. Die Bindungen rissen jedoch nie ab – und sie kommen vor allem immer dann zum Tragen, wenn die Institutionen des jeweiligen Staates nicht mehr funktionieren.

Auch hier taugt Libanon als Exempel: Der libanesische Bürgerkrieg brachte ab 1975 ein solches Maß an Zerstörung mit sich, dass die Menschen automatisch auf ihre jeweiligen Konfessionsgruppen zurückgeworfen wurden. Im Irak setzte der Zerfall des Staates 1991 nach dem Krieg um Kuwait ein: Die Vereinten Nationen verhängten Sanktionen, die die staatlichen Strukturen im Laufe der Jahre zunehmend schwächten. Nach dem Sturz Saddam Husseins, 2003, gab es den Versuch, neue Strukturen zu schaffen. Diese waren jedoch so schwach, dass die Stämme stark blieben, weit stärker als der Staat.

Diese familiären Netzwerke kommen vor allem Al Qaida sehr gelegen, da sie die Verbreitung einer transnationalen islamistischen Ideologie verfolgt – gegen die Nationalstaaten. Ziel ist die Bildung eines religiösen Über-Staates, in der die Gemeinschaft der Gläubigen, die Umma, zusammenkommt. Dazu müssen die bestehenden Nationalstaaten überwunden werden. Je schwächer diese Staaten werden, desto stärker werden die Al-Qaida-Gruppen.

Je länger die syrische Krise währt und je mehr Flüchtlinge Zuflucht in den Nachbarländern suchen, desto größer wird auch in diesen Ländern die Gefahr der Entstaatlichung, da dort staatliche Strukturen zunehmend von traditionellen, grenzüberschreitenden Stammesstrukturen abgelöst werden, die mit der transnationalen Ideologie von Al Qaida zu einer gefährlichen Einheit verschmelzen. Immer größer wird die Gefahr, dass auch die umliegenden Länder zu Brutstätten für Terroristen werden, die auf die Zerstörung des sie „beheimatenden“ Staates abzielen. Durch die Entstaatlichung Libanons, Syriens und des Irak und durch Stärkung militanter islamistischer Gruppen verblassen die willkürlich gezogenen Demarkationen immer mehr.

Die vielen Flüchtlinge stellen eine existenzielle Bedrohung für die Nachbarstaaten Syriens dar. Deren staatliche Strukturen werden geschwächt, was wiederum Al Qaida stärkt. Der wachsende Einfluss des Terrornetzwerkes bedroht aber auch den engsten Verbündeten des Westens in der Region: Israel. Noch nie waren Al-Qaida-Lager Israel so nahe wie heute. Zudem ist die Befreiung der Heiligen Städte und die Vertreibung der „Kreuzzügler“ und der Zionisten ein Kernbestandteil der dschihadistischen Ideologie. Durch die voranschreitende Destabilisierung des Nahen Ostens droht ein Flächenbrand in der gesamten Region – was auf lange Sicht auch eine Gefahr für Europa wäre.

Hoffnungsschimmer Jordanien?

Ein regionaler Hoffnungsschimmer aber bleibt: Anders als in Libanon und im Irak gibt es in Jordanien staatliche Versuche, einer Flüchtlingskatastrophe wie in den Nachbarländern vorzubeugen – in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen.

In Zaatari, dem größten Lager für syrische Flüchtlinge in der Region, leben zurzeit knapp 90 000 Menschen. Dort hat das Flüchtlingshilfswerk der UN (UNHCR) die Verwaltung übernommen und wird dabei von den jordanischen Behörden unterstützt. Neben Supermärkten gibt es hier auch Restaurants, Frisöre, Teestuben, Cafés, Schulen und Erste-Hilfe-Stationen. Die Hütten von Zaatari sind einigermaßen standfest, können Regen und Wind, aber auch der Sonne trotzen. Es gibt fließendes Wasser, gepflasterte Straßen und Verkehrsschilder.

Dabei sah es dort keineswegs immer so aus. Noch vor etwas mehr als einem Jahr galt Zaatari als ein Zentrum der Kriminalität: Prostitution und Kinderhandel, Waffenschiebereien und Hehlerei waren an der Tagesordnung. Durch die enorme Zunahme der Flüchtlinge konnte das Lager kaum noch mitwachsen, die staatlichen Behörden verloren nach und nach die Kontrolle. Doch seit der Übernahme der Lagerverwaltung durch die UNHCR hat sich die Kriminalität im Flüchtlingslager auf einem Niveau eingependelt, das dem anderer Städte mit mehr als 85 000 Einwohnern entspricht. Doch auch hier mischen sich militante Islamisten unter die Flüchtlinge, jedoch in weitaus geringerem Maße als in anderen Lagern. Darum zeigt Zaatari auch, dass humanitäre Hilfe allein Al Qaidas Einfluss zwar nicht verhindern, aber vielleicht doch zumindest abschwächen kann.

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