Ausgabe März 2012

Tschernobyl in Permanenz

Ein Jahr Fukushima

Ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben in Japan, das die Zerstörung mehrerer Kernkraftwerke (KKW) zur Folge hatte, scheint die atomare Katastrophe von Fukushima erfolgreich geregelt zu sein: Die Kaltabschaltung sei positiv verlaufen, die Dekontaminierung der verseuchten Gebiete werde fortgesetzt, ja sogar die Rückkehr der evakuierten Bevölkerung sei in wenigen Monaten möglich. Darüber hinaus sei Cäsium nicht gesundheitsschädlich und außerdem schütze Lächeln am besten vor Strahlenkrankheiten. Mit diesen Erfolgsmeldungen und Durchhalteparolen versucht die japanische Regierung zum Jahrestag des Super-GAU die Bevölkerung des Landes zu beruhigen.

Fukushima ist der Präzedenzfall für ein schweres Versagen von Kernkraftwerken in einem hochindustrialisierten Land. Der von Atomkraftbefürwortern für höchst unwahrscheinlich gehaltene Fall eines atomaren Super-GAU führte zu einem dramatischen Déjà-vu: 25 Jahre nach Tschernobyl standen die betroffenen Menschen erneut machtlos der nicht beherrschbaren Technologie gegenüber. Zugleich sahen sie sich einer unfähigen Führung ausgesetzt, die mit Beschwichtigungen versuchte, die Katastrophe kleinzureden. Und auch noch ein Jahr nach der Katastrophe stehen sich Befürworter und Gegner der Atomkraft in der Bewertung der Schäden kontrovers gegenüber.

Von der Atombegeisterung zur Atomskepsis

Die friedliche Nutzung der Atomenergie hat in Japan eine erstaunliche Tradition. Bereits nach den schrecklichen Erfahrungen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki gab es in der Bevölkerung ein schwer nachzuvollziehendes Wohlwollen gegenüber der Kernkraft. Dabei handelt es sich vor allem um ein „Verdienst“ der Vereinigten Staaten von Amerika, die es durch massive Beeinflussung der Medien und der Politik geschafft haben, dass jahrzehntelang nahezu ausnahmslos wohlmeinend über die Kernenergie berichtet wurde. Mit bizarren Konsequenzen: Als in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre das Museum zum Gedenken an die Abwürfe der Atombomben eröffnet wurde, befand sich im Erdgeschoss eine große Propagandaausstellung für die angeblich „zivile“ Nutzung der Kernenergie. Auch Tschernobyl änderte daran wenig: Die sehr weitreichende Emanzipation der Bevölkerung von den Informationen „von oben“, die in der Bundesrepublik auf den Unfall von 1986 folgte, die Aufklärung über die Risiken der Kernenergienutzung durch Fachleute, die aus ihren Elfenbeintürmen herabstiegen – all das gab es in Japan nicht. Der Fallout von Tschernobyl streifte Japan nur geringfügig – sowohl realiter als auch intellektuell.

Umso bemerkenswerter ist es, dass sich Japan nach Fukushima nun zu verändern beginnt. Wie tiefgreifend diese Veränderung ist, kann man noch nicht abschätzen. Was aber in den letzten Monaten geschah, wäre vor Fukushima kaum vorstellbar gewesen: In Japan gibt es jetzt große Demonstrationen, Foren und Veranstaltungen. Neue Organisationen und Wissenschaftler artikulieren Kritik in einer überraschenden Schärfe; Künstler nutzen ihre Popularität für atomkritische Aufklärung und Mütter melden sich in allen Teilen des Landes auf nachdrückliche Weise zu Wort, bilden Kommunikationsnetze und stacheln ihre wohlerzogenen Männer an, sich dem Protest anzuschließen. Die großen Tageszeitungen haben ihre atomfreundliche Grundhaltung an den Nagel gehängt, auch in Radio- und Fernsehsendungen gibt es eine Fülle von kritischen Nachrichten, im Internet brodelt es. Sogar bei den Strahlenopfern von Hiroshima und Nagasaki, den Hibakushas, bewegt sich etwas. Sie waren bisher sehr auf ihr eigenes, schreckliches Schicksal fixiert, und es fiel ihnen nicht leicht, die Strahlenopfer aus anderen Bereichen – wie dem Uranbergbau, von Atomwaffentests, Kernkraftwerken oder Radargeräten – als Verbündete zu sehen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Jetzt setzt auch bei ihnen ein Umdenken ein und sie beginnen, die friedliche Nutzung der Kernenergie scharf zu kritisieren. Da die Hibakushas inzwischen auch aufgrund ihres hohen Alters großen Respekt genießen, kommt ihren Äußerungen hohe Aufmerksamkeit zu.

Für die betroffene Bevölkerung ist indes besonders wichtig, dass sie inzwischen auf eine stattliche Anzahl von Messstationen zurückgreifen kann, die unabhängig von staatlichen Organen Lebensmittel, Wasser und Boden auf Kontaminationen testen. Solche von Bürgerinnen und Bürgern betriebenen Stationen entstanden nach Tschernobyl auch in Deutschland; in den vergangenen Monaten erfolgte ein reger Erfahrungsaustausch zwischen engagierten Japanern und den Aktiven aus der Nach-Tschernobyl-Zeit in Deutschland und Frankreich: Wie misst man die Radioaktivität, welche Geräte sind zu empfehlen, wie wertet man die Ergebnisse aus, was bedeuten sie?

Exemplarisch für solche Messstationen sei die Citizens’ Radioactivity Measurement Station (CRMS) in Fukushima genannt. Die Betreiber streben mit ihrem „Projekt 47“ an, dass in jeder Präfektur mindestens eine solche Messstation aufgebaut wird. Die CRMS wird nicht von professionellen Strahlenphysikern betrieben, sondern von ganz normalen Bürgern, die sich erstaunlich konzentriert und schnell in die komplizierte Materie eingearbeitet haben. Mittlerweile führen sie nicht mehr nur Messungen durch, sondern veranstalten auch Kongresse und werden als Konsultationspartner von der betroffenen Bevölkerung dankbar angenommen. Vielfach mündet die zunehmende Kritik an der Nutzung der Kernenergie sogar in eine neue Art grundsätzlicher Kritik an den japanischen Verhältnissen in Politik, Wirtschaft und Gesundheitswesen.

Der Stand der Katastrophe

Und doch sind die selbstorganisierten Hilfsangebote und die Versuche, etwas über den Zustand in der Region herauszufinden, nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn über den Ablauf der Katastrophe, das Ausmaß und die räumliche Verteilung der Kontamination, über verseuchte Nahrungsmittel, über bereits zu beobachtende Gesundheitsprobleme, über das Ausmaß der Abwanderung aus der Region und den Umfang der wirtschaftlichen Schäden gibt es bisher nur bruchstückhafte Informationen.

Klar ist bislang folgendes: In drei Reaktoren kam es bald nach dem Erdbeben zu Kernschmelzen. Das geschmolzene Material hat das Stahlgefäß der Reaktoren nach unten durchbrochen und arbeitet sich bis heute immer weiter durch den darunter liegenden Beton. Wie das genau aussieht, weiß niemand. Der Albtraum wäre, dass das heiße Metall auf das Grundwasser trifft (die KKW stehen praktisch am Strand) und dann eine Dampfexplosion alles zerlegt, was jetzt noch steht. Immerhin steigt die Temperatur – trotz der angeblich erfolgreichen „Kaltabschaltung“ – fortwährend an, wobei nicht ganz klar ist, wo und wie diese Anstiege entstehen und ob die Messgeräte überhaupt noch richtig funktionieren.

Besonderes Sorgenkind ist der Reaktorblock 4, der zunächst als harmlos dargestellt wurde, weil zum Zeitpunkt des Erdbebens die Brennelemente wegen einer geplanten Durchsicht aus dem Reaktor entfernt worden waren. Das Problem besteht darin, dass Block 4 nur noch aus einem Gerippe besteht, da aus unbekannten Gründen die massiven Wände herausgeschleudert wurden. Ganz oben auf diesem krummen Gerippe befindet sich ein wassergefülltes Becken, in dem sich etwa 1500 überwiegend benutzte Brennelemente befinden. In einem kürzlich erstellten Gutachten ist die japanische Atomaufsicht der Frage nachgegangen, was passieren würde, wenn dieses sehr schwere Becken herunterstürzen oder so leck würde, dass die Kühlung der Brennelemente nicht mehr sichergestellt werden könnte. In einem solchen Fall rechnen die Gutachter damit, dass die Brennelemente bersten und die freiwerdenden Radionuklide Evakuierungen bis zu einem Radius von 250 Kilometern erforderlich machen könnten – also bis nach Tokyo. Das aber wäre praktisch unmöglich.

Der Zustand aller vier Reaktorblöcke in Fukushima ist alles andere als stabil. Dass japanische Geologen überdies schwere Erdbeben in der direkten Umgebung des KKW befürchten, trägt wenig zur Beruhigung bei. Zudem sind zunehmende Verunreinigungen in den Binnengewässern Japans nachweisbar: Bisweilen wurden stark kontaminierte Klärschlämme einfach in die Flüsse gekippt. Auch haben die bewaldeten Hügel und Berge mehr von den strahlenden Wolken aufgefangen, als man zunächst angenommen hatte. Es ist zu befürchten, dass mit dem schmelzenden Schnee im Frühjahr viel davon in kleineren oder größeren Rinnsalen in die Flüsse gelangen und diese abermals verunreinigen wird – die Konsequenzen für Trinkwassergewinnung und Fischfang wären verheerend. Auch kann niemand angeben, welche Folgen der Fallout und die gigantischen Mengen stark kontaminierter Flüssigkeiten, die in den Pazifik geleitet wurden, zeitigen werden. Nicht absehbar sind schließlich die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen für die Umgebung von Fukushima, die geographisch viel weiter reicht als die hochbelastete Zone in nordwestlicher Richtung. Schon jetzt sind unter anderem Touristikunternehmen aller Art davon betroffen.

Die zweite nukleare Katastrophe

Eine detaillierte Kartierung der Kontamination, die eine echte Entscheidungshilfe für die Frage nach Evakuierung darstellen könnte, gibt es auch ein Jahr nach der Katastrophe nicht. Das liegt sicher nicht zuletzt daran, dass die japanische Regierung alles tut, damit die Bürger nicht aus den belasteten Gebieten wegziehen. So häufen sich Berichte über eine regelrechte Desinformation ganzer Ortschaften über deren Strahlenbelastung. Nur sehr unwillig wurden Gebiete zur Evakuierung gekennzeichnet – denn nur diejenigen Familien, die von dort wegziehen, bekommen eine (geringfügige) finanzielle Unterstützung. Wer aber aus eigenem Entschluss geht, steht ohne Hilfe da. Bis zu 150000 Einwohner haben die Region um Fukushima verlassen müssen, sind bisweilen noch immer in Notunterkünften untergebracht und müssen ohne Arbeit und feste Bleibe auskommen. Zugleich wurden Evakuierungen in vielen Fällen sehr kleinräumig festgelegt – ein Haus wurde evakuiert, das daneben nicht. Es bedarf keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, was das für den Alltag der Menschen, der Kinder, die auf dem Schulweg Slalom laufen müssen und nicht einfach draußen spielen können, bedeutet.

Schon kurz nach der Katastrophe hat die Stadt Fukushima mit Shunichi Yamashita einen bekannten Mediziner eingeladen, um die Bevölkerung zu „informieren“. Er riet den Leuten zu bleiben, erzählte ihnen, radioaktives Cäsium sei ungefährlich, Strahlenbelastungen unter 100 Millisievert würde keine Gesundheitsschäden verursachen. Stattdessen würde die „Strahlenphobie“ zu Erkrankungen führen, also nicht die Strahlung, sondern die – unbegründete – Angst davor. In einer Bürgerversammlung am 20. März 2011 erklärte er: „Strahlenschäden kommen nicht zu Menschen, die glücklich sind und lächeln. Sie kommen zu Leuten, die verzagt sind.“ Yamashita ist keineswegs Irgendwer, sondern ein einflussreicher Wissenschaftler. Er hat sich mit den Auswirkungen der Bombe von Nagasaki und den Erkrankungen in der Tschernobylregion beschäftigt und die Ärztekammer hält ihn für einen kompetenten Fachmann. Insgesamt ist die japanische Ärzteschaft (wie in anderen Ländern auch) sehr konservativ und autoritätshörig. Es ist tragisch, was das für die ärztliche Betreuung, die medizinische und menschliche Beratung der besorgten Bürgerinnen und Bürger und auch für die sorgfältige Erfassung der zu erwartenden Gesundheitsschäden bedeutet.

Die japanische Regierung nutzt den in Japan sorgfältig anerzogenen und tief verwurzelten Patriotismus auf sehr fragwürdige Weise: Nach der Katastrophe hielt sie die Bevölkerung an, die Präfektur Fukushima gerade durch den Kauf der dort produzierten Lebensmittel zu unterstützen. Mit bunten Prospekten wirbt die Präfektur Fukushima ohne Skrupel für die landwirtschaftlichen Produkte ihrer Region. Ebenfalls mit Patriotismus begründet die japanische Regierung ihre Aufforderung an alle Präfekturen des Landes, einen Teil des Bauschutts, den der Tsunami hinterlassen hat und der dann vom Fallout Fukushimas verseucht wurde, zu übernehmen und in ihren Müllverbrennungsanlagen zu „entsorgen“. Ein Teil der Radioaktivität wird dabei durch den Schornstein erneut als Fallout auch in bisher noch unbelasteten Regionen niedergehen. Der Rest der Radioaktivität findet sich dann hochkonzentriert in der Asche, die wiederum zur Landgewinnung ins Meer gekippt werden soll. Dieses Vorgehen ist eine bislang unbeachtete zweite nukleare Katastrophe – diesmal aber trifft sie ganz Japan. In einigen Präfekturen ist die Verbrennung bereits angelaufen, andere sind bisher der Aufforderung der Regierung noch nicht gefolgt. Insgesamt rechnet das japanische Umweltministerium mit 23,8 Mio. Tonnen verseuchtem Bauschutt aus den betroffenen Küstengebieten.[1]

Ein Ende der Strahlenbelastung ist daher noch längst nicht in Sicht; vielmehr könnte sich der Kreis der Betroffenen weiter erhöhen. Die größte Belastung für die Bevölkerung wird über einen längeren Zeitraum von kontaminierten Nahrungsmitteln ausgehen. Unmittelbar nach Fukushima wurden in Japan die Grenzwerte für die gesetzlich erlaubte Kontamination von Lebensmitteln auf einem hohen Level festgesetzt. Ausschlaggebend für diese Entscheidung waren primär der Schutz der Landwirtschaft und des Handels vor Verlusten sowie die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung. Der Gesundheitsschutz spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Absurderweise wurden auch in Deutschland die Grenzwerte für Nahrungsmittelimporte aus Japan angehoben. Dabei ging es nicht etwa um die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung oder den Schutz der Landwirtschaft, vielmehr war es die Sorge um die Handelsbeziehungen, die hier eine Rolle spielte. Die Idee, nach einer Nuklearkatastrophe einfach die Lebensmittelgrenzwerte zu erhöhen, stammt noch aus der Zeit nach Tschernobyl, als in einigen Bundesländern Nahrungsmittel vernichtet wurden und Entschädigungen an Bauern gezahlt werden mussten. Das wollte man beim nächsten Mal offensichtlich „besser“ machen.

Auch wenn es noch immer keine Übersicht über den unterschiedlichen Grad der Nahrungsmittelkontamination gibt, kann der bisherige Umgang mit diesem Problem nicht befriedigen. Immer wieder kommen Meldungen über neue Befunde mit irritierend hohen Messwerten ans Tageslicht: So gibt es Berichte darüber, dass Schulen im Süden Japans Essen an zehntausende Schüler ausgegeben haben, in dem sich Rindfleisch aus Fukushima befand, und es finden sich verschleiernde Kennzeichnungen von Lebensmitteln. So scheint als „Hokkaido-Reis“ bezeichneter Reis aus dem sauberen Norden Japans zu stammen, doch auf der Rückseite des Reissacks steht sehr klein gedruckt: „enthält auch Reis aus Hokkaido“ – ein feiner Unterschied.

Thomas Dersee und der Verfasser dieses Beitrags haben im Auftrag von Foodwatch und IPPNW eine Studie erarbeitet, in der unter Zugrundelegung der deutschen Strahlenschutzverordnung ermittelt wurde, wie hoch ein akzeptabler Grenzwert für die Nahrungsmittelbelastung aus medizinischer Sicht höchstens sein dürfte. Diese Überlegungen wurden inzwischen in mehrere Sprachen und auch ins Japanische übersetzt und in Japan intensiv diskutiert. Vielleicht hatten sie Anteil daran, dass in einigen Wochen die japanischen Grenzwerte gesenkt werden – zwar nicht weit genug, aber immerhin.[2]

„Wegwerfarbeiter“ für die Drecksarbeit

Ein spezielles und sehr tragisches Kapitel ist der Einsatz billiger Arbeitskräfte für die Drecksarbeiten in Fukushima. Die Rekrutierung solcher Arbeiter und deren Vermittlung an das Kernkraftwerk Fukushima (und andere KKW) erfolgt als einträgliches Geschäft auch durch die Yakuza, die japanische Mafia. Sie werben unter anderem Obdachlose von Parkbänken an oder verpflichten zahlungsunfähige Schuldner zur Erbringung dieser Arbeiten. Der japanische Journalist Suzuki Tomohiko war im Sommer 2011 mehrere Wochen bis zu seiner Enttarnung als Arbeiter in Fukushima tätig und hat seine Beobachtungen in einem erschütternden Buch beschrieben.[3] Tomohiko befasst sich seit Jahren mit den Yakuza und zeigt ihre engen Verflechtungen mit der japanischen Nuklearindustrie auf. In Fukushima wird mittlerweile auf Plakaten davor gewarnt, sich für solch gefährliche Einsätze anwerben zu lassen. Bereits 1979 hat Kunio Horie nach Einsätzen in drei japanischen KKW die Arbeit der „genpatsu gipsys“ oder „tsukai sute genpatsu rôdôsha“, der „AKW-Wegwerfarbeiter“, in beeindruckender Weise beschrieben.[4] Diese bislang viel zu wenig diskutierte Schattenseite der Kernenergienutzung betrifft im Übrigen nicht nur Fukushima und Japan. Auch in der Bundesrepublik werden Leiharbeiter in Kernkraftwerken eingesetzt. Sobald ihr Strahlenpass voll ist, nimmt man die nächsten Leiharbeiter – oder einen neuen Strahlenpass. Es wäre nämlich schlichtweg zu teuer, die qualifizierte Stammbelegschaft bei Arbeiten mit hoher Strahlenbelastung zu „verbrennen“.

Dass die Ahnungslosigkeit der Bevölkerung gefördert wird, ist ebenfalls keineswegs japanspezifisch. „Haltet sie im Unklaren über Kernspaltung und Kernfusion“, sagte US-Präsident D. Eisenhower schon 1953 zu seinen Mitarbeitern. Ihm war klar, dass die Weiterentwicklung der Atomwaffen eingestellt werden müsste, wenn die Bevölkerung über die wahren Risiken und Schäden informiert wäre. Seine Anweisung steht bis heute als unsichtbares Motto über der Kernenergienutzung – der militärischen wie der friedlichen.

So befanden leitende Mitarbeiter der DDR-Atomaufsicht in einem Bericht über eine UN-Konferenz 1988, an der sie aktiv beteiligt waren, dass die „langjährigen Betriebserfahrungen und die Schlussfolgerungen aus den KKW-Unfällen in Tree Mile Island und Tschernobyl belegen, dass Kernkraftwerke und andere Kernanlagen sicher betrieben werden können.“[5] Und nicht weniger originell klingt es nach Fukushima auf der Jahrestagung der World Nuclear Association im September 2011 in London: „Der Atomunfall in Fukushima ist ein Beweis dafür, wie sicher Atomkraftwerke sind.“

Studiert man, was internationale Gremien zu Tschernobyl zu sagen haben, so bekommt man eine Ahnung davon, wie die Informationspolitik dieser Gremien über die gesundheitlichen Auswirkungen von Fukushima aussehen wird: 1991 kam das „International Chernobyl Project“ unter Führung der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO) zu der Einschätzung, dass die „Kinder, die untersucht wurden, völlig gesund [waren].“ Und: „Die Daten enthalten seit dem Unfall keinen deutlichen Anstieg von Leukämie oder Schilddrüsentumoren […]. Es gibt nur Gerüchte über solche Tumore.“[6] Verantwortlich für diese Passage war der US-Mediziner Fred Mettler. Er hatte damals bereits die Gewebeproben kindlicher Schilddrüsentumore auf seinem Tisch – diese finden jedoch keinerlei Niederschlag in seinen Ausführungen. Die IAEO schreibt im Jahr 2000: „Es gibt keinen wissenschaftlichen Hinweis auf Anstiege der Inzidenz oder Mortalität an Krebs allgemein oder an nicht bösartigen Gesundheitsstörungen, die mit Strahlenbelastung in Beziehung gebracht werden können.“ Wenige Wochen vor dem 25. Jahrestag von Tschernobyl am 26. April 2011 erschien ein Bericht des Wissenschaftlichen Komitees der Vereinten Nationen für die Wirkung Atomarer Strahlen (UNSCEAR) an die UN-Generalversammlung. In diesem ist von 28 Menschen die Rede, die an hoher Strahlung infolge des Super-GAU von Tschernobyl starben. Für mehrere 100000 an den Aufräumarbeiten beteiligten Arbeiter gebe es hingegen keine Belege für Gesundheitsschäden, die der Strahlung zugeschrieben werden können. Weiterhin werden 6000 Schilddrüsenkrebsfälle angeführt, von denen nur 15 Menschen starben – und bis jetzt gebe es auch hier keine überzeugenden Belege, dass irgendein anderer Gesundheitseffekt in der Bevölkerung der Strahlung zugeschrieben werden kann. Die Ignoranz gegenüber den Bergen wissenschaftlicher Studien und Publikationen, die ein völlig anderes Bild zeichnen und die von den UN-Gremien nachhaltig ignoriert werden, ist frappierend. Wenn 25 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl derart verharmlosend über deren Folgen berichtet wird, kann man erahnen, was diese Gremien 25 Jahre nach Fukushima feststellen werden.

Deutsche Erfahrungen und japanische Albträume

An dieser Stelle ist kein Raum für einen umfassenden Überblick über die tatsächlichen Gesundheitsschäden nach Tschernobyl – ob in der Ukraine, Weißrussland oder in Russland. Zwei Details seien jedoch erwähnt: Im Norden der Ukraine ist der Gesundheitszustand der heutigen Kinder sehr besorgniserregend – nur zehn bis zwanzig Prozent der Kinder können als gesund gelten, viele haben gleich mehrere chronische Erkrankungen gleichzeitig. Wenn man den Gesamtschaden für die betroffene Bevölkerung in Russland, der Ukraine und Weißrussland abschätzen möchte, kann man sich auf die offiziellen Angaben der UdSSR im August 1896 vor der IAEO in Wien stützen und sie mit dem heutigen Wissen über Strahlenrisiken verknüpfen. Daraus ergibt sich etwa eine viertel Million zusätzlicher Krebstoter, eine entsprechende Zahl an krebserkrankten Menschen und eine noch höhere Zahl an tödlichen und nichttödlichen anderen Erkrankungen infolge von Tschernobyl. Dabei sind die Gesundheitsschäden außerhalb der Tschernobylzone nicht berücksichtigt.[7]

Interessant für die gegenwärtigen Entwicklungen um Fukushima sind die Beobachtungen von Gesundheitsschäden in Deutschland und Westeuropa nach Tschernobyl – weit weg vom Katastrophenreaktor und bei bloß „moderaten“ Strahlenbelastungen: Karl Sperling ist der Doyen der Genetiker in Berlin. Er wurde auf eine plötzliche Zunahme von Neugeborenen mit Downsyndrom in Westberlin aufmerksam; die Zunahme erfolgte im Januar 1987. Nachdem alle für ihn vorstellbaren Ursachen dafür ausgeschlossen werden konnten, stieß er zufällig auf Daten zum Tschernobyl-Fallout neun Monate zuvor. Auch in Weißrussland wurden später Daten erhoben, die einen steilen Anstieg der Zahl der Kinder mit Trisomie ebenfalls im Januar 1987 zeigten. Dort hielt sich zudem über viele Jahre ein höheres Niveau als vor 1986. Sperling wurde nach seiner Veröffentlichung unter Druck gesetzt, abzuschwören, doch er blieb bei seinen Ergebnissen.

Hagen Scherb, Mathematiker am Helmholtzzentrum München, hat die Säuglingssterblichkeit bzw. die Totgeburten in Westeuropa untersucht und festgestellt, dass sich der Trend nach 1986 signifikant verändert hat. An finnischen Daten konnte er zeigen, dass die Totgeburten mit steigender Belastung durch den Fallout zunahmen. Tausende Kinder sind nach Tschernobyl in Westeuropa über den zu erwartenden Trend hinaus tot geboren worden oder kurz nach der Geburt gestorben. Scherb hat anhand bayerischer Daten zu angeborenen Fehlbildungen in den Landkreisen mit höherem Tschernobyl-Fallout festgestellt, dass die Fehlbildungen dort dramatisch zugenommen haben, während sie in den niedriger belasteten Landkreisen annähernd konstant geblieben sind. Umfangreichere Untersuchungen zu Fehlbildungen sind kaum möglich, weil es in den meisten Staaten keine Fehlbildungsregister gibt. Die jüngsten Arbeiten von Scherb und seinen Kollegen befassen sich mit der Beobachtung, dass sich nach Tschernobyl das Verhältnis von neugeborenen Jungen zu neugeborenen Mädchen in Europa, in der Tschernobylregion und den asiatischen Staaten der früheren Sowjetunion verändert hat. In der Konsequenz bedeutet das einen Verlust von etwa einer Million ungeborener Kinder – überwiegend Mädchen.[8]

Alle diese Effekte traten durchweg bei moderaten oder sehr niedrigen Strahlendosen auf, und sie waren nach einem Jahr bereits deutlich ausgeprägt. Entdeckt wurden sie jedoch erst viele Jahre später. Selbst wenn man vorsichtig ist mit langfristigen Prognosen zu den Gesundheitsschäden nach Fukushima, so erscheint es sehr wahrscheinlich, dass die aus Deutschland und Westeuropa bekannten Effekte bereits heute in Japan zu finden wären, wenn man sie nur suchen würde.

Wir wären nicht besser dran

Doch auch für uns gibt es, trotz des angekündigten Atomausstiegs, keinen Grund zur Entwarnung: All das, was uns am Umgang Japans mit der Katastrophe, mit den Bürgern, mit der Wahrheit ärgert, würde in Deutschland nicht besser ablaufen. Die deutschen Katastrophenschutzpläne für nukleare Unfälle sind untauglich, sie sehen Evakuierungen nur für viel zu kleine Gebiete vor. Nach wie vor ist selbst die Verteilung von Jodtabletten zur Verhütung von Schilddrüsenkrebs logistisch ungelöst. Hinzu kommt, dass die Bürger im Falle eines „Unfalles“ auf den Schäden sitzen bleiben würden, da die KKW nach wie vor fast vollständig von der Haftpflicht befreit sind. Zugleich wird in den Krankenhäusern viel zu wenig Kapazität für Strahlenopfer bereitgehalten, und schließlich würden auch hierzulande die Nahrungsmittelgrenzwerte in die Höhe schnellen. Auch bei uns gibt es keine Vorstellung darüber, was wir mit kontaminiertem Müll anstellen würden, der nach einer nuklearen Katastrophe außerhalb des KKW anfällt.

Zwar gab es nach Fukushima den überraschenden Atomausstiegsbeschluss der schwarz-gelben Bundesregierung. Aber bis heute gibt es keinen Plan, wie die Alternative aussehen soll. Ja, mehr noch: Zugleich werden sogar die Ausbaupläne für regenerative Energiequellen zurückgefahren. Wie nach Tschernobyl, so wurden auch nach Fukushima die Katastrophenschutzpläne nicht verbessert. Und die geltende Strahlenschutzverordnung wurde nicht einmal vom Bundestag diskutiert.

Bis heute wird in Deutschland – genau wie in Japan – von interessierten Kräften in Wirtschaft und Politik jede offene Diskussion darüber systematisch unterdrückt, wie viele Opfer ein Super-GAU wie in Tschernobyl oder Fukushima bei uns zur Folge haben würde – und ob wir sie für den Betrieb von Kernkraftwerken tatsächlich zu tragen bereit sind.

Der frustrierende Umgang mit mächtigen ignoranten, korrumpierten oder gar verlogenen Wissenschaftlern macht zornig. Bertolt Brecht hat beim Schreiben des „Leben des Galileo Galilei“ vom erfolgreichen Versuch der Kernspaltung erfahren und geahnt, was auf uns zukommt. Im 13. Akt des Dramas kann man es lesen – und Brecht hatte so recht: „Wer die Wahrheit nicht kennt, ist nur ein Dummkopf. Aber wer sie kennt, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“

 

[1] Vgl. IPPNW Aktuell, Fukushima: Das atomare Zeitalter beenden, 2011, S. 3.

[2] IPPNW und Foodwatch e.V., Kalkulierter Strahlentod, Die Grenzwerte für radioaktiv verstrahlte Lebensmittel in der EU und in Japan, 2011.

[3] Suzuki Tomohiko, Die japanische Mafia und die Atomindustrie (auf japanisch), 2011.

[4] Horie Kuno, Genpatsu Gipsy (auf japanisch), 2011 [1979].

[5] Report SAAS-357, Texts of papers presented by the GDR delegation at the United Nations Conference for the Promotin of International Co-operation in the Peacful Uses of Nuclear Energy, 23.3.-10.4.1987, Berlin 1988.

[6] The International Chernobyl Project, IAEA, Wien 1991.

[7] IPPNW und Gesellschaft für Strahlenschutz e.V., Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl. 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe, Berlin 2011.

[8] Vgl. verschiedene Publikationen auf www.helmholtz-muenchen.de/ibb/homepage/hagen.scherb.

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