Ausgabe Oktober 2012

Ursula von der Leyen oder: Die Wiederentdeckung der Altersarmut

Jahrzehntelang war Altersarmut in Deutschland ein Tabuthema, das gern verdrängt wurde, weil viele Menschen unterschwellig Angst hatten, im Rentenalter womöglich selbst davon betroffen zu sein.[1] Anfang September 2012 avancierte das Problem allerdings quasi über Nacht zum Topthema in den Medien und zur größten sozialpolitischen Herausforderung der Bundesregierung. Auslöser dafür war ein parteitaktisches Manöver der Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen, die mit dramatisierenden Rechenbeispielen den Widerstand gegen die von ihr geplante „Zuschussrente“ zu brechen suchte: Wer 35 Jahre lang monatlich weniger als 2500 Euro brutto verdient, dessen Rente, prognostizierte sie ausgerechnet in „Bild am Sonntag“, werde nach 2030 weniger als die Grundsicherung im Alter betragen – er oder sie müsste also beim Renteneintritt zum Sozialamt gehen.[2] Vor ihrem PR-Coup hatte von der Leyen das Problem immer verharmlost, beschönigt und als beherrschbar dargestellt. Norbert Blüms berühmt-berüchtigter Satz „Die Rente ist sicher“ scheint endgültig von der Wirklichkeit überholt zu werden. Von einer Sicherung des Lebensstandards im Alter kann jedenfalls keine Rede mehr sein. Aber mehr noch: Was wir heute erleben, ist die Folge des Bruchs mit der Tradition einer immer weiter vorangetriebenen Absicherung von Altersrisiken durch den Sozialstaat.

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