Ausgabe April 2012

Von der Ungleichheit zur Menschenfeindlichkeit

Vom Amoklauf in Erfurt im April 2002 bis zur Entdeckung der rechtsextremen Mordserie spannt sich das letzte Jahrzehnt. Just über diesen Zeitraum, von 2002 bis 2011, wurde in einem Bielefelder Langzeitprojekt die Entwicklung von „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ in Deutschland beobachtet.[1] Die Annahme, dass Vorurteile gegenüber verschiedenen schwachen Gruppen nicht unabhängig von einander zu sehen sind,[2] sondern einen gemeinsamen Kern aufweisen, der als „Ideologie der Ungleichwertigkeit“[3] bezeichnet werden kann, wurde erstmals empirisch getestet und nachgewiesen.[4] Welche Gruppen in der Gesellschaft als ungleichwertig betrachtet werden, ist demnach variabel und unterliegt vielfachem gesellschaftlichen Wandel. Wie aber haben sich die Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen während der letzten zehn Jahre tatsächlich verändert – und welche Legitimationen werden für die grassierende Abwertung herangezogen?

Die Beobachtung Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit machte zunächst deutlich, dass wir es mit einem stabilen Bestand an Ungleichwertigkeit in der Gesellschaft zu tun haben. Gleichzeitig ergeben sich aber ständige Neu- und Umkategorisierungen: Während einige Elemente im Laufe der Untersuchung an Relevanz verlieren, rücken andere in den Vordergrund.

Das Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit umfasst zum Abschluss der Untersuchung zwölf Elemente: Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Islamfeindlichkeit, die Reklamierung von Etabliertenvorrechten sowie die Abwertung von obdachlosen Personen, von Personen mit Behinderung, Personen mit homosexueller Orientierung, langzeitarbeitslosen Personen, Roma und Sinti und asylsuchenden Personen. Dabei ist die Anzahl der Gruppen, die mit abwertenden Einstellungen konfrontiert sind, prinzipiell nicht begrenzt und es können immer neue Gruppen in den Fokus geraten. So wurden aufgrund der zunehmenden Stigmatisierung Langzeitarbeitsloser diese im Jahr 2007 in die Untersuchung aufgenommen, und im Jahr 2011 asylsuchende Menschen sowie Roma und Sinti.

Dagegen zeigt die Analyse bemerkenswerterweise kontinuierlich sinkende Werte für klassisch sexistische Einstellungen sowie für abwertende Einstellungen gegenüber homosexuellen Personen. Für rassistische Einstellungen, die eine biologistisch legitimierte Höherwertigkeit der eigenen Gruppe behaupten, galt dies immerhin bis 2010, anschließend stiegen die Werte wieder an – vermutlich auch ausgelöst durch die Sarrazin-Debatte.

» Die Abwertung von obdachlosen und langzeitarbeitslosen Menschen ist unter jüngeren Befragten besonders verbreitet.«

Ebenso finden wir tendenziell sinkende Zustimmung zu klassisch antisemitischen Positionen. Art und Ausmaß der Abwertung hängen zudem von der Altersgruppe ab: Während wir Einstellungen wie Rassismus, Sexismus und Homophobie deutlich häufiger bei älteren Befragten (über 65 Jahre) finden, ist die Abwertung von obdachlosen und langzeitarbeitslosen Menschen unter jüngeren Befragten (unter 28 Jahre) besonders verbreitet.

Insgesamt haben Formen der Abwertung zugenommen, die auf ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkulationen basieren. Dies betrifft etwa langzeitarbeitslose Personen und Personen ohne festen Wohnsitz, aber auch eine Form der Fremdenfeindlichkeit, die auf Konkurrenz um knappe Ressourcen (wie etwa Arbeitsplätze) rekurriert. Solche Abwertungen stehen offensichtlich in Zusammenhang mit der zunehmenden sozialen Spaltung der Gesellschaft.[5] So war im Zeitraum von 2005 bis 2006 nach Einschnitten in das soziale Netz und steigender Arbeitslosigkeit auch eine Zunahme von Abstiegsängsten zu verzeichnen, die mit einem Anstieg von Fremdenfeindlichkeit einherging. Nach einem zwischenzeitlichen Rückgang steigen seit 2010 fremdenfeindliche Einstellungen erneut an. Ein anhaltend hohes Niveau ist seit Beginn der Studie bei der Abwertung von Personen ohne festen Wohnsitz zu beobachten sowie seit 2007 bei der Abwertung von langzeitarbeitslosen Personen.

Die veränderten Legitimationen von Abwertung lassen sich im Kontext jener soziologischen Gegenwartsdiagnosen deuten, die eine zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft ausmachen.[6] Demnach ist im Zuge eines flexiblen Kapitalismus eine Inwertsetzung des Sozialen zu beobachten – mit gravierenden Auswirkungen für die Lebenswelt der Individuen und Gemeinschaften. Infolge der Dominanz neoliberaler Politikstrategien wird sozialer Ungleichheit nicht mehr primär durch staatliche Integrationsleistungen begegnet, sondern durch Praktiken der Disziplinierung. Workfare ersetzt welfare. Gut zu beobachten ist diese Veränderung im Bereich der Arbeitsmarktpolitik: Hier wirken die Angst vor dem Scheitern und die Drohung, nicht mithalten zu können, hochgradig disziplinierend und führen zu forcierter Selbstoptimierung. Der Wettbewerb, nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch um Freunde und Partner, Attraktivität, Ideen etc., wird zum zentralen Interaktionsmodus der Spätmoderne. Das an den Tugenden der Kreativität, Flexibilität und Eigenverantwortung orientierte „unternehmerische Selbst“ scheint immer stärker zum dominanten Konzept der Lebensführung zu werden. Das Ergebnis ist eine hochgradig beschleunigte und ökonomistisch determinierte Sphäre des Sozialen. Daraus folgt – mit Blick auf die Markierung von Ungleichwertigkeit in der Gesellschaft –, dass weniger konkurrenz- und leistungsfähige Gruppen zunehmend mit Abwertung konfrontiert sein werden. Es deutet sich daher an, dass konservativ motivierte Abwertungsmuster in der älteren Generation langsam von ökonomistisch motivierter Ungleichwertigkeit in der jüngeren Generation abgelöst werden.

» Die zunehmende Prekarisierung geht einher mit massiver sozialer Verunsicherung auch der Mittelschicht.«

Das „unternehmerische Selbst“ kann zwar als schichtübergreifende Aufforderung an die Lebensführung verstanden werden, die damit einhergehende Abwertung trifft jedoch in einer von Ungleichheit gekennzeichneten Gesellschaft vor allem die ökonomisch schwachen Gruppen. Die zunehmende Prekarisierung, speziell auch der Arbeitsverhältnisse im flexiblen Kapitalismus, hat jedoch nicht nur für die direkt Betroffenen disziplinierende Effekte, sondern erreicht auch die noch durch Erwerbsarbeit Integrierten und sogar die „Gesicherten“.[7] Sie geht einher mit massiver sozialer Verunsicherung auch der Mittelschicht. Andere Arbeitnehmer erscheinen zunehmend als Konkurrenten um knappe Stellen. Personen jedoch, die um ihre Position fürchten, tendieren dazu, andere und insbesondere Schwächere abzuwerten, um die eigene, gefährdete Position zu sichern.

Im Kontext der eigenen Abstiegsgefährdung sollte die Abgrenzung nach unten, also von noch schlechter gestellten Gruppen, daher umso deutlicher auftreten, je stärker die Abstiegbedrohung wahrgenommen wird. Mit Blick auf schwache Gruppen, die kaum als Konkurrenten um knappe Stellen gelten können, wie etwa langzeitarbeitslose und obdachlose Personen, ist hingegen die Distinktion der eigenen Gruppe von entscheidender Bedeutung. Solche Distinktionsversuche erklären, warum wir in den unteren und mittleren, also den am stärksten gefährdeten und daher abwertungsbereitesten Einkommensgruppen das höchste Ausmaß an Menschenfeindlichkeit gegenüber langzeitarbeitslosen und obdachlosen Personen finden.

Andere Motivationen zur Abwertung von Gruppen, die im ökonomischen Sinne als wenig leistungsfähig gelten, zeigen sich in der oberen Einkommensgruppe. Im Zuge der Finanzkrise war im Jahr 2010 ein deutlicher Anstieg von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bei Befragten mit einem Pro-Kopf Einkommen über 2600 Euro festzustellen. Dennoch ist die offene Abwertung schwacher Gruppen in der oberen Soziallage weniger verbreitet. Ein Disktinktionsinteresse gegenüber den schwächsten Gruppen wie langzeitarbeitslosen oder obdachlosen Personen ist hier nicht gegeben: Die Differenz ist ausreichend deutlich, die eigene Position kaum gefährdet.

» Die Stigmatisierung schwacher Gruppen dient der Legitimation der Statushierarchie.«

Werden schwache Gruppen in der öffentlichen Debatte als faul oder minder intelligent stigmatisiert oder ihnen eine zu hohe Anspruchshaltung attestiert, erfüllt dies für die oberen Einkommensgruppen jedoch eine andere Funktion: Es dient der Legitimation der Statushierarchie. Daher ist es auch kaum verwunderlich, dass die oberen Einkommensgruppen eher eine sogenannte Leistungsgerechtigkeit fordern und Prinzipien der Bedarfsgerechtigkeit und der Verteilungsgleichheit tendenziell ablehnen: Der Rekurs auf die gerechte ungleiche Verteilung materieller Ressourcen aufgrund ungleicher Leistungen legitimiert die eigene Besserstellung. Zu erwarten ist, dass solche Legitimationen vermehrt auftreten, wenn die Statushierarchie in Frage gestellt wird.

Tatsächlich ist eben dies im Zuge der Finanzkrise der Fall: Seit ihrem Höhepunkt im Jahr 2008 ist auch die soziale Frage stärker in das politische Bewusstsein der Gesellschaft zurückgekehrt. Proteste unter dem Occupy-Motto „We are the 99 percent“ machen dies ebenso deutlich wie Kapitalismuskritik in konservativen Feuilletons.[8]

Für die oberen Einkommensgruppen ist dies als Angriff auf deren Privilegien zu verstehen. Die Reaktion ist vermehrte Abwehr: Während man sich problemlos mit einer bescheidenen bedarfsgerechten Umverteilung arrangieren konnte, solange die eigene Überlegenheit nicht tatsächlich in Frage gestellt wurde, beobachten wir nun gerade in der oberen Einkommensgruppe einen Anstieg der Abwertung und die Aufkündigung von Solidarität mit schwachen Gruppen.

Während die offene Abwertung in der oberen Einkommensgruppe jedoch noch immer eher zurückhaltend geäußert wird, erhalten wir bei der Frage nach der Unterstützung schwacher Gruppen eine eindeutiges Bild: Personen aus der oberen Einkommensgruppe fordern am häufigsten weniger Unterstützung für Arbeitslose und sind seltener als alle anderen der Meinung, dass obdachlose Menschen mehr Unterstützung bekommen sollten.[9]

Auch wenn die Studie nach zehn Jahren abgeschlossen wurde, sind ihr wichtige Hinweise für zukünftige Entwicklungen zu entnehmen. Sollte sich die ökonomische Krise verschärfen, dürfte auch die Abwertung der im ökonomischen Sinne weniger leistungsfähig oder „nutzlos“ erscheinenden Gruppen zunehmen.

In den unteren und mittleren Soziallagen wird die Distinktion durch Abstiegsängste forciert, in den oberen Soziallagen wird die Leistungsideologie bemüht, um die eigenen Privilegien zu legitimieren und die Unterstützung schwacher Gruppen infrage zu stellen. Angesichts der ungelösten Krisenhaftigkeit des realexistierenden Kapitalismus erscheint es daher wahrscheinlich, dass sich ökonomische Krisen auch immer wieder als Gesellschaftskrise äußern, nämlich in Form von Ausgrenzungsforderungen gegenüber schwachen Gruppen.

» Der Ausgrenzung schwacher Gruppen ist nur mit gesellschaftlicher Solidarität und Unterstützung beizukommen.«

Über den zukünftigen Zusammenhalt der Gesellschaft entscheidet daher der politische Umgang mit den vorhandenen materiellen und immateriellen Ressourcen. Angesichts der beständig wachsenden Abstiegsangst in den unteren und mittleren Soziallagen ist der Ausgrenzung schwacher Gruppen nur mit einer Erneuerung der sozialstaatlichen Absicherung beizukommen, die statt auf Kontrolle und Drohung auf gesellschaftliche Solidarität und Unterstützung setzt. Dies wird allerdings nur mittels erheblicher Umverteilung von oben nach unten zu haben sein, sprich: einer stärkeren Belastung der oberen Einkommensgruppe und der größeren Vermögen. Dass hier mit erheblichen Widerständen zu rechnen ist, steht auf einem anderen Blatt.

 

[1] Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folgen 1 bis 10, Frankfurt a. M. 2003 bis 2011.

[2] Vgl. bereits Gordon W. Allport, Die Natur des Vorurteils, Köln 1971, und Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter,
Frankfurt a. M. 1973.

[3] Wilhelm Heitmeyer, Die Ideologie der Ungleichwertigkeit, in: ders. (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 6, Frankfurt a. M. 2008, S. 36-44.

[4] Andreas Zick u.a., The Syndrome of Group-Focused Enmity-Theory and an Empirical Test, in: „Journal of Social Issues“ 2/2008, S. 363-383.

[5] Jan Goebel, Martin Gornig, Hartmut Häußermann, Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert, in: „Wochenbericht des DIW Berlin“, 24/2010.

[6] Vgl. dazu Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998; Loic Wacquant, Die neoliberale Staatskunst: Workfare, Prisonfare und soziale Unsicherheit, in: Bernd Dollinger und Henning Schmidt-Semisch (Hg.), Gerechte Ausgrenzung? Wohlfahrtsproduktion und die neue Lust am Strafen. Wiesbaden 2011, S. 77-110; Bob Jessop, From the Keynesian Welfare to the Schumpeterian Workfare State, in: Roger Burrows und Brian Loader (Hg.) Towards a Post-Fordist Welfare State? Routledge 1994, S. 13-38; Hartmut Rosa, Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft, in: „Leviathan“ 1/2006, S. 82-104; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007.

[7] Klaus Dörre, Prekarisierung und Rechtspopulismus – gibt es einen Zusammenhang? In: „WISO Diskurs Wirtschafts- und Sozialpolitik“, Juni 2007.

[8] Frank Schirrmacher, „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 15.8.2011.

[9] Wilhelm Heitmeyer, Disparate Entwicklungen in Krisenzeiten, Entsolidarisierung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, in: ders. (Hg.) Deutsche Zustände. Folge 9, Berlin 2010.

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