Wahlkampf Frankreich sehnt sich nach der Vergangenheit. Links und rechts, oben und unten aber gelten nicht mehr. Eine Reise zu jenen Franzosen, die auf einen Aufbruch warten
Vor ein paar Tagen stand François Hollande auf einer Bühne vor dem Schloss Vincennes und bebte. Es war sein letzter großer Auftritt vor der französischen Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag. Lange hat der Kandidat der Sozialisten die Umfragen klar angeführt, doch nun holt Amtsinhaber Nicolas Sarkozy immer mehr auf. Hollande musste in Vincennes also alles richtig machen.
„Wir sind in Paris, der Stadt, die für die ganze Welt das Symbol der Revolution ist!“, ruft er seinen Anhängern zu. Er erinnert an die Résistance, an die „großen Männer“ und François Mitterrand. Er redet laut, mitreißend, pathetisch – und dennoch befremdend nostalgisch. Selbst wenn er über die Gegenwart spricht, klingt e
, klingt es, als erinnere er an die Französische Revolution. Aber die Menschen feiern ihn. Offenbar hat Hollande genau erfasst, was Frankreichs Linke gerade braucht. Oder zumindest, was sie sich wünscht. Sie soll auf alten Ideen ein neues Land bauen.Wer verstehen will, was es heute bedeutet, in Frankreich links zu sein, der muss Yves Thréard treffen, den stellvertretenden Chefredakteur des konservativen Figaro und landesweit bekannten Talkshow-Kommentator. Und Catherine Millet, die Provokateurin, die mit ihren intimen Bekenntnissen Das sexuelle Leben der Catherine M. die französischen Moralisten schockierte und anschließend eine internationale Bestsellerautorin wurde. Oder Alexandre Jardin, einen der am häufigsten übersetzten französischen Schriftsteller, der das Gleichheitsideal in der Bildung aufbrechen will – und bei der Linken als Nestbeschmutzer gilt. Aber: man muss auch die einfachen Leute fragen, auf den Straßen und in den Bistros von Paris.Der Schriftsteller Alexandre Jardin hockt in einem hellbraunen Ledersessel in seinem Büro, in einem bürgerlichen Teil des Pariser Nordens. Die Wände sind rot gestrichen, Sisal-Teppich, Schreibtisch, Bett, man kommt sich vor wie bei Freud. Der 47-Jährige stammt aus einer Künstlerfamilie und träumt von einer „Nation der Leser“. Deshalb hat er den Verein „Lire et faire lire“ gegründet, der Rentner an Schulen schickt, um dort die Freude am Lesen zu vermitteln. Bisher machen 60.000 Freiwillige mit. Eine unglaubliche Zahl.Sein Herz schlage sozial, sagt Jardin. In diesem Jahr aber werde er Nicolas Sarcozy wählen. Früher stand die Linke für Veränderung, heute seien die Sozialisten die Konservativen: „Sie wollen, dass sich nichts bewegt.“ In einem Le Monde-Artikel hat Jardin vor Kurzem die Idee der Einheitsschule für gescheitert erklärt: Gleiche Bildung für alle zu fordern, richte sich gegen das einfache Volk, vor allem gegen die Bewohner der Vororte, der Banlieues. Die Menschen würden ja verschiedene Voraussetzungen mitbringen. „Statt Abi für alle sollten die Berufsschulen ausgebaut werden“, fordert er – so wie in Deutschland.Manche Sozialisten reden nun nicht mehr mit ihm. Das wundere ihn aber nicht, sagt Jardin. Die Franzosen würden sich der Realität verweigern, auch in diesem Wahlkampf: „Niemand sagt die Wahrheit. Statt über Schulden und die ökonomische Krise reden wir über die Reform des Führerscheins.“ Er lacht kurz, es klingt hysterisch: Ganz Frankreich leide unter einer „kollektiven Hypnose“.Wie das kommt? Das habe seit dem Zweiten Weltkrieg Tradition: „Die gesamte Rechte hat das Vichy-Regime unterstützt, aber nach 1945 identifizierten sich plötzlich alle mit dem Gaullismus.“ Jardins jüngstes Buch handelt von seinem Großvater, einem hohen Beamten des Vichy-Regimes. Für das Buch wurde er heftig attackiert, nur Sarkozy lud ihn in den Élysée-Palast zum Diner ein. Über die dunklen Seiten ihrer Vergangenheit schwiegen die Franzosen lieber, sagt Jardin, oder sie verherrlichten sie. Die Wunden seien zu groß.Die Erben der „Gauche Caviar“Der Weg von Jardins Büro zur Métro führt durch die Rue de Lévis, eine teure Geschäftsstraße, Madame führt hier ihren Dackel spazieren. Vor einem Olivenöl-Geschäft plaudert ein Händler, der spitze schwarze Lackschuhe trägt, mit einer Passantin, einer Frau mit blondierten Haaren, weißer Fellweste, faltigem Gesicht, aber dem Blick eines jungen Mädchens. Als Schauspielerin und Kunstagentin sei sie immer „links“ gewesen, sagt sie, als man sie anspricht. Schon im Mai ’68 habe sie auf der Straße demonstriert. Heute aber gehe es allen nur ums Geld, auch den Künstlern!Diese Debatte wird in Frankreich schon seit einer Weile geführt: Kann man reich und trotzdem links sein? Die Frau zuckt mit den Schultern. Einmal sei Leo Ferré, den sie kannte, im Rolls-Royce bei ihr vorgefahren. Léo Ferré! Eine Chanson-Ikone! Ein Anarchist! „Warum kommst du im Royce?“, hat sie ihn da gefragt. „Mädchen, wie alt bist du?“, antwortete er. 20! „Gut. Ich verzeihe dir“.Die Erben jener „Gauche Caviar“ – einem Jet-Set, der mit den Ideen von ’68 kokettierte – sind die „Bobos“: Bourgeois Bohème. Der Begriff beschreibt eher einen Lebensstil als eine politische Haltung: den des Öko-Bürgers, der gut verdient und sich ein Appartement im einst einfachen und heute angesagten Viertel am Canal St. Martin leisten kann. An diesen Bobos arbeitet sich Marine Le Pen von der rechtsextremen Front National ab. Es sei einfach, ein Gutmensch zu sein, wenn man nicht unter der Wirtschaftskrise zu leiden habe, so spielt sie oben und unten gegeneinander aus.Die Anwältin Dounia Hammou ist selbst „ein bisschen Bobo“, sagt sie. Sie hat einen Tisch in einer Crêperie nahe ihrer Kanzlei im luxuriösen Madeleine-Viertel reserviert, zwischen Gucci- und Prada-Boutiquen. Die 29-Jährige verdient zwischen 3.000 und 5.000 Euro im Monat. Mit 18 ist sie aus Casablanca nach Paris gekommen, um Jura zu studieren. 2007 hat sie der Sozialistin Ségolène Royal im Wahlkampf geholfen, aber sie möchte ihren richtigen Nachnamen nicht nennen: „In unserer Kanzlei sage ich lieber nicht so gerne, dass ich politisch links engagiert bin. Mein Chef ist rechts.“ Links-rechts, das klingt nach Politik, wie sie früher einmal war. Dabei argumentiere heute kaum mehr jemand ernsthaft auf der Achse „rechts-links“, meint Mathieu Laine, der politische Philosophie an der Sciences Po, Frankreichs Elite-Uni, unterrichtet. Die Frage laute eher, ob man an den Staat glaube, oder allein an das Individuum.Links sein bedeute, die Gesellschaft als Kollektiv zu denken, sagt Anwältin Hammou. Reichtum sei kein Problem, solange man alle in ein soziales System einbinde. „Ich glaube nicht an die Idee, dass das Wohl des Einzelnen zum Wohl aller führt. Es ist umgekehrt.“ Dass sie hohe Steuern zahle, störe sie nicht.Aber die französische Gesellschaft hat sich verändert, sie zerfällt, Milieus wandern, die Mittelschicht löst sich auf, wie überall in Europa. Eine prekäre Existenz war früher das Schicksal von Ungebildeten oder Immigranten, nun hat sie die Akademiker erreicht. Es ist nicht mehr so leicht zu definieren, das Frankreich „von oben“ und „von unten“.Xavier Renou ist längst von der Theorie auf die Praxis umgestiegen. Der 38-Jährige stammt aus der Normandie, vor sechs Jahren hat er das „Kollektiv des zivilen Ungehorsams“ gegründet. Ähnlich der Occupy-Bewegung propagiert es gewaltfreie Aktionen. Renou eilt ins Café am Gare du Nord, mit Rucksack, er sei immer unterwegs, sagt er. Seine „Kameraden“ protestieren auf G8-Gipfeln, aber auch lokal gegen die „Logik des Profits“.Sie besetzen Arbeitsagenturen, weil die Mitarbeiter dort nur Zahlen reduzieren wollten, statt zu helfen. Sie kämpfen gegen die Installation von Mobilfunkantennen gegenüber eines Kindergartens. Immer, sagt Renou, gehe es ihm um den Citoyen, „so wie bei Stuttgart 21“. Sein Kollektiv hat 9.000 Sympathisanten in Frankreich und ist europaweit vernetzt. „Salut Karim“, grüßt er den Kellner, der auch ein Ungehorsamer ist. Sie plaudern über eine neue Aktion: „Copwatch“. Eine Bürgerpatrouille soll die Polizisten bei der Arbeit beobachten und filmen, wenn sie brutal vorgehen, gegen Einwanderer etwa.Kann man so das System ändern? „Nein, aber Leuten die Augen öffnen und sie zum Denken anregen“, sagt Renou. Seine Vorbilder seien Martin Luther King, die Feministinnen und Gandhi. Dann springt er auf, er müsse jetzt jemanden schulen, der gegen die Dominanz der Werbung kämpfen will. Eine ältere Dame am Nebentisch hat das Gespräch mitgehört. Lächelnd sagt sie: „L’État, c’est nous.“ Sie nimmt das Zitat des Sonnenkönigs und verdreht es. Der Königskomplex.Der Rückzug auf sich selbstYves Thréard drückt es anders aus: „Wir haben den König geköpft, aber wir wünschen ihn uns eigentlich zurück.“ Thréard sitzt in seinem Büro im zweiten Stock des verglasten Figaro-Gebäudes am Boulevard Haussmann und wundert sich ebenfalls darüber, dass seine Landsleute sich der Realität verweigern. Die Worte Hollandes seien wie Wind, auf keinen Fall revolutionär.Muss er das denn sein? „Nein, aber wir sind in einer schwierigen ökonomischen Lage, der Staat ist verschuldet, und unser famoses Sozialmodell muss reformiert werden, damit es effizienter ist und weniger kostet.“ Alles, worauf die Franzosen einmal stolz waren, funktioniere heute nicht mehr. Aber niemand biete dem Land eine echte Strukturreform an. Eine Agenda 2010, noch dazu von Sozialisten? Die Franzosen würden die Straße stürmen, so wie kürzlich bei der Rentenreform. Und so konstruieren die Kandidaten den Wahlkampf lieber um Klassenrhetorik herum, anstatt die Probleme anzugehen.Und so etwas wie eine große Koalition? „Das wäre unvorstellbar in diesem Land“, sagt Thréard. Die ideologischen Linien sind zu starr, auch die Presse ist zuerst Meinungs-, dann Informationsorgan. Es fällt auf, wie still sich in diesem Wahlkampf die Intellektuellen verhalten. Es fehle die Glut, sagt Thréard. Und wer sich für eine Seite engagiert, wird dafür bestraft. Als sich der algerische Sänger Faudel für Sarkozy einsetzte, verkauften sich seine Platten nicht mehr wie zuvor.Sie sei nie links oder rechts gewesen, „aber ich war schon immer eine progressive Kraft“, erzählt Catherine Millet. Die Autorin ist heute Herausgeberin des Kunstmagazins Artpress. Sie trägt Pagenkopf, ein chinesisches Seidenkleid und Ballerinas, auf ihrem Tisch stapeln sich Bücher, an der Wand hängen Fotos von Zappa, Dalí und Sarkozy bei der Amtseinführung. Er steht im Élysée neben der Trikolore. Das Bild hat eine Freundin gemacht, sie finde ihn so „lächerlich“, sagt Millet. Der kleine Mann und die Macht.Ihre Rolle und die der Intellektuellen sei es, Avantgarde zu sein. Die Linke spreche im Namen der Leute, halte sich aber an „der Kommune“ fest, statt über die Gegenwart nachzudenken. 1871 hatten Arbeiter eine proletarische Regierung errichtet, die Pariser Kommune. Die meisten Kommunarden, Sozialisten, wollten Adel und Unternehmer beseitigen. Für Franzosen kann „Unternehmer“ noch heute ein Schimpfwort sein. Millets Vision ist „eine Gesellschaft von Erwachsenen“, auch was die Geschlechterverhältnisse angeht. Viele Feministinnen seien heute konservativ, weil sie Frauen permanent als Opfer sähen. Das Land müsse sich neu definieren. Der esprit français sei zurzeit der Rückzug auf sich selbst.Es dämmert. Im Bistro „Le Baron Rouge“ liegen schwere, alte Holzfässer auf dem Boden, man kann sich Wein abfüllen lassen und mit nach Hause nehmen. Der Kronleuchter ist aus Gläsern zusammengebastelt. Hinter dem Tresen stehen Weinflaschen, auf kleine Tafeln sind mit Kreide Sorten und Preise gekritzelt, das Dekor erinnert an Bistros der vierziger Jahre. „Damals sind viele nach der Arbeit auf ein Glas vorbeigekommen“, erzählt ein eleganter Herr, „heute findest du in Paris keinen Arbeiter mehr.“ Der Mitterand, das sei noch ein echter Linker gewesen. Nach dem dritten Glas redet der Mann von Napoléon.
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