Was heißt hier »Würde«?

Jörg Meyer über Langzeitarbeitslosigkeit von über einer Million Menschen in Deutschland

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 2 Min.

Das Grundgesetz beginnt mit dem Satz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Das gilt für alle. Menschen, die unter 18 Jahre alt sind, sollen keinen Mindestlohn bekommen, Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten einer neuen Tätigkeit auch nicht. Gewerkschaften und Linke kritisieren die Ausnahmen scharf. Zwar soll - das ist immerhin im Gesetzentwurf enthalten - zwei Jahre nach Einführung des Mindestlohnes evaluiert werden, ob diese Einschränkung zu einer nur kurzen Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen geführt hat. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Wäre die massenhafte Fünf-Monate-und-29-Tage-Beschäftigung tatsächlich eine Folge der Ausnahme im Gesetz, würde sich das auch an anderen Stellen des Arbeitsmarktes auswirken und Druck auf die Löhne machen. Langzeitarbeitslose langfristig in Lohn und Brot zu bringen, könnte diese Ausnahme bei der Lohnuntergrenze ebenfalls erschweren. Ab davon gibt es genug Beispiele dafür, wie Unternehmer jedwede Möglichkeit zum Lohndrücken ausnutzen.

Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit sind in Deutschland über eine Million Menschen langzeitarbeitslos, allein 300 000 davon in Ostdeutschland. 30 Prozent der Beschäftigten im Osten verdienen unter 8,50 Euro in der Stunde. Dort gebe es besonders viele Menschen, »die aufgrund der niedrigen Tarifbindung von ihrer Hände Arbeit nicht leben können«, sagte die Abgeordnete Daniela Kolbe am Donnerstag im Bundestag. »Diesen Menschen wollen wir ihre Würde zurückgeben.« Auch für Arbeitsministerin Andrea Nahles (beide SPD) und Klaus Ernst (LINKE) ist der Mindestlohn eine »Frage der Würde«.

Einen ganz anderen Begriff von Würde hat man im neoliberalen Thinktank »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«. Der kritisiert, dass die Ministerin die Würde derjenigen in Frage stellt, deren »Produktivität und Qualifikation nicht ausreichen, um mehr als 8,50 Euro pro Stunde zu erwirtschaften«. Wer in solchen Kategorien denkt, dem ist bloß blanker Zynismus, freundlichstenfalls Realitätsverweigerung vorzuwerfen. Auch wird der Mindestlohn nicht massenhaft Jobs vernichten, wie wirtschaftsnahe Forschungsinstitute immer wieder behaupten. 8,50 Euro pro Stunde heißen zwischen 1300 und 1400 Euro im Monat - brutto wohlgemerkt. Da geht es nicht um Umverteilung, sondern um Existenzsicherung auf niedrigem Niveau. »Umverteilung« findet anderswo statt: Alles in allem müssen über eine Millionen arbeitende Menschen aufstocken, sind also auf Hartz-IV-Kohle angewiesen. Mindestlohn hieße also auch, dass manchem Unternehmer erschwert würde, sich seine miese Lohnpolitik vom Staat subventionieren zu lassen.

»Würde kennt diese Gesellschaft nur als Konjunktiv«, diesen Satz sagte der 2013 verstorbene Altmeister des Kabaretts, Dieter Hildebrandt, bei einem seiner letzten Auftritte. Wäre schön, hätte er Unrecht.

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