Als ihr als erster dunkelhäutiger Frau 2009 für ihren Roman Drei starke Frauen der Prix Goncourt verliehen wurde, spielte Marie NDiaye das biografische Gewicht dieses Attributs wiederholt herunter: „Ich lebte als Mischlingskind zu einer Zeit in Frankreich, als das noch recht selten war“, gab sie in einem Interview zu Protokoll. „Gleichzeitig war ich durch und durch Französin.“ Als Tochter eines senegalesischen Vaters, der die Familie früh verlassen hat, habe sie zwar eine gewisse Differenz empfunden, aber nie darunter gelitten. Ihrer Hautfarbe misst die 46-Jährige keine große Bedeutung bei, sie ist keine Reisende zwischen den Kulturen. Viel wichtiger, sagt sie an anderer Stelle, sei für sie die Frage der sozialen Herkunft, das Them
ft, das Thema der Nichtzugehörigkeit.Aber als ob sich die in der Nähe von Orléans im sozialen Wohnungsbau aufgewachsene Autorin (die 17-jährig mit einem Romanmanuskript den Zug nach Paris bestieg, um es dem Verleger der berühmten Éditions de Minuit vorbeizubringen) selbst widerlegen wollte, ist in ihrem neuen Roman Ladivine gerade die Hautfarbe Ursache der Probleme.GlücksversuchEs geht um die hellhäutige Malinka, die von einer Schwarzen abstammt und ohne Vater aufwächst. Obwohl sie sich äußerlich von anderen Kindern nicht unterscheidet, steht sie „draußen“, ist sie wie ihre Mutter eine „dunkle Blume ohne Lebensberechtigung“. Immer deutlicher geht Malinka trotz aller Liebe auf Distanz zu ihrer als Hausangestellte arbeitenden Mutter, die sie nur „die Dienerin“ nennt und verleugnet. Schließlich verschwindet sie ganz, gibt sich den urfranzösischen Namen Clarisse, heiratet unter falschem Namen Richard Rivière und scheint mit ihm und ihrem Kind in einer kleinen, provinziellen Stadt ein normales, glückliches Leben zu führen.Dennoch besucht sie als Malinka allmonatlich ihre Mutter. „Die Liebe zu ihrer Mutter war für sie eine herbe, unmöglich herunterzubringende Speise. Die Nahrung zerfiel ihr im Mund zu bitteren Teilchen.“ Das Geheimnis ihrer Herkunft, das Malinka/Clarisse von sich selbst entfremdet, liegt schwer auf der gesamten Familie, deren Mitglieder sich bis in die übernächste Generation in Schuldgefühle verstricken.Marie NDiaye, die auch als Dramatikerin hervorgetreten ist, nimmt in dieser siebten auf deutsch erschienenen Prosaarbeit all jene Versatzstücke auf, die man schon aus früheren Texten kennt: Die Erfahrungen in der Provinz, unter deren aufgeräumter Oberfläche die Gewalt rumort; der Mikrokosmos Familie mit seinen Leidenschaften und Grausamkeiten und den daraus resultierenden Schuldzusammenhängen. Da sind die Mütter, die ihre Gewalterfahrungen weitergeben an ihre Kinder wie in Rosie Carpe, dem Roman, mit dem sich Marie NDiaye 2005 erstmals ihrem deutschsprachigen Publikum vorstellte. In ihrem Sohn Titi sieht Rosie Carpe den Makel ihres Lebens, doch sie muss erst nach Guadeloupe reisen, um ihn dort zurücklassen zu können. In dem ein Jahr später erschienenen Erzählband Alle meine Freunde stört die Autorin mit der Geschichte von zwei verkauften Kindern auf, deren Nacktfotos im Internet kursieren.Soweit bei Marie NDiaye die Familien überhaupt noch bestehen, sind sie jedenfalls kein Hort der Sicherheit. Gewaltbeziehungen, wohin man blickt, menschliche Abgründe und soziale Verwerfungen, bis hin zu jenem Grenzzaun zwischen Afrika und Europa, den Khady Demba in Drei starke Frauen mit einer Leiter überwinden will. Obwohl die Französin in ihren Büchern nicht mit politischen Botschaften hausieren geht, hat sie der Prix Goncourt nicht daran gehindert, ihre Auffassung über das „monströse“ Sarkozy-Frankreich kundzutun und damit innenpolitisch für etwas Aufregung zu sorgen. „Ich finde nicht, dass Schriftsteller eine politische Pflicht dazu haben“, erklärte NDiaye dazu lapidar. „Aber Bürger haben eine.“Einbruch des ExotischenDas Sarkozy-Frankreich war schließlich der Grund, dem Land den Rücken zu kehren und zum zweiten Mal nach Berlin zu ziehen. Schreibend residiert Marie Ndiaye in Le Corbusiers „Wohnmaschine“ im Westend, mit ihrem Mann und den drei Kindern wohnt sie in einer beschaulichen Ku’damm-Seitenstraße, von wo aus die täglichen ausgedehnten Spaziergänge ihren Ausgang nehmen. Wenn Berlin, das die Autorin wegen seiner sozialen Durchmischung schätzt, als Inspirationsort verbraucht ist, wird die vagabundierende Familie, die auch schon in Rom und Barcelona gelebt hat, vielleicht wieder weiterziehen.In Berlin immerhin ist Ladivine entstanden, und wie Marie NDiaye einmal versprach, spielt die Stadt dieses Mal sogar eine Rolle, denn in Charlottenburg wohnt auch Clarisse Rivières mittlerweile erwachsene Tochter, die nach ihrer Großmutter ebenfalls Ladivine heißt. Verheiratet mit einem Deutschen, der mit seinen Träumen an den Eltern gescheitert ist, und zwei Kindern wähnt sie sich glücklich, bis ihre Mutter Clarisse, von deren tatsächlicher Herkunft auch sie nichts weiß, einen grässlichen Tod stirbt.Schließlich versetzt die Autorin wie schon in früheren Romanen ihre Figuren ins Exotische, wo das Märchenhafte, das Wunderbare hereinbricht. In Ladivine ist es ein nicht näher beschriebenes afrikanisches Land, in das die Familie schließlich in die Ferien reist, um der alljährlichen Warnemünder Urlaubslethargie zu entkommen. Dort taucht auch plötzlich wieder der große braune Hund auf, der schon zuvor eine Beschützerrolle gespielt hat: „Sie versenkte ihren Blick in seinen still verzweifelten, still flehenden Blick, und die Menschlichkeit und bedingungslose Güte des fügsamen Tieres füllten ihre Augen mit Tränen, sie wünschte sich sehnlichst, dieses Tier zu sein und wusste dabei plötzlich, dass der Übergang auf natürliche Weise stattfinden würde.“Dieses in die Normalität einbrechende Unheimliche erinnert an Ein Tag zu lang (2012), wo plötzlich die Familie eines Mathematiklehrers verschwindet und er bei seiner Suche wie eine Figur aus einem Kafka-Roman auf den nicht fassbaren Widerstand der Dorfbewohner stößt. Die Szenerie ist in einen unheimlichen Nebel getaucht, so wie auch die Hafenstadt Bordeaux in Mein Herz in der Enge (2006). In Selbstporträt in Grün (2012) ist es ein Hochwasser der Garonne, das die Unterströmungen des Bewusstseins in Bewegung setzt.Die magische Natur und insbesondere die Tiere sind bei Marie NDiaye gleichberechtigte Spielfiguren, sie greifen in all ihrer Verwandlungsfähigkeit in die Handlung ein und treiben sie voran. Damit erinnert Marie NDiayes Poetik an das berühmte Statement in Ingeborg Bachmanns Franza-Fragment: „Denn die Tatsachen, die die Welt ausmachen“, heißt es dort, „sie brauchen das Nicht-Tatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden.“Zu den ausgesprochenen Stärken NDiayes gehören auch die psychologischen Tiefenbohrungen, die kühle, aber nie kompromittierende Sezierung ihrer Figuren. In einem genau kalkulierten Wechsel von Innen- und Außenperspektive, der gerade im Fall von Malinka/Clarisse die tödliche Selbstentfremdung offenlegt, präpariert sie Haltungen und Beweggründe heraus, immer elegant changierend zwischen schmerzhaft-kristallinem Realismus und verschwenderischer Magie, die Claudia Kalscheuer perfekt ins Deutsche überträgt.Aber obwohl Scham und unerfüllte Erlösungshoffnung, Schuld und Sühne die psychologischen Kerne bilden und sich in diesem neuen Roman einmal mehr entfalten, strahlen gerade die gedemütigten weiblichen Figuren – von Rosie Carpe bis zu Ladivine – eine unzerstörbare Würde aus. Am deutlichsten wird das im Porträt-Triptychon Drei starke Frauen, das bei aller Härte und Gewalt das Gute im Menschen reklamiert.Aus der Perspektive literarisch-zynischer Frostigkeit kann man das als naiv abtun oder als unverbesserliches „Gutmenschentum“. Dann aber hätte man nicht das Aufstörende begriffen, das Marie NDiayes Romanen den Drive gibt: Das Gute ist ohne das Abgründige, die menschliche Fehlleitung hier nicht zu haben.
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