Der „Piratenprozess“ in Hamburg

Prozessbeobachterin 02.02.2012 10:49 Themen: Antirassismus Repression
Der „Piratenprozess“ in Hamburg – Teil der europäischen Kriegslogik

„Die Strafverfolgung mutmaßlicher Piraten ist wichtiger, abschreckender Bestandteil des Vorgehens gegen Piraterie“, heißt es auf der Web-Seite des Auswärtigen Amtes unter dem Stichwort EU-Antipiraterie-Militärmission „Atalanta“. In Hamburg stehen seit November 2010 zehn somalische Angeklagte, darunter drei Jugendliche, vor Gericht, an denen diese Abschreckung beispielhaft vollzogen werden soll.
Es ist der erste Prozess dieser Art in Deutschland. Die „mutmaßlichen Piraten“ sind inzwischen seit einem Jahr und 8 Monaten gefangen –zuerst eine gute Woche auf der niederländischen Fregatte „Tromp“, an die Bordwand gefesselt und dubiosen Verhören des militärischen Geheimdienstes ausgesetzt, danach im holländischen Knast und nunmehr schon seit 17 Monaten in Hamburg in U-Haft: Die Jugendlichen auf der Gefängnisinsel „Hahnöfersand“ im Jugendknast, die Erwachsenen am Holstenglacis im Untersuchungs-Gefängnis.

Zu den Verhandlungen werden die Jugendlichen, an Händen und Füßen gefesselt, in Gefangenentransportern in die Stadt ins U-Gefängnis gebracht und dann mit den Erwachsenen zusammen, von jeweils einem Wärter oder auch einer Wärterin begleitet, durch einen Kellergang in den Großen Gerichtssaal geführt. Die Presse sitzt mit im Saal. Das inzwischen nur noch spärliche Publikum kann hinter einer Glasscheibe der Verhandlung beiwohnen.

Flankiert von zwei PflichtverteidigerInnen verfolgen die Angeklagten den Prozess -mit Kopfhörern bestückt- mitunter sechs Stunden lang mit einer Stunde Unterbrechung in der Mittagspause. Drei Somali-Dolmetscher übersetzen jedes Wort. Spricht ein Zeuge in einer anderen Sprache – z.B. niederländisch, englisch oder ukrainisch – wird erst ins Deutsche, dann ins Somalische übersetzt. Die Prozedur kostet Zeit und Konzentration. Wenn die Angeklagten Kopfschmerzen haben, dürfen sie dennoch den Kopfhörer nicht absetzen. Viele von ihnen, kriegstraumatisiert und gesundheitlich zerrüttet, können nur noch unter Medikamenten den Verhandlungen folgen.

Einige haben –im Vertrauen auf den „guten Willen“ des Gerichts und im Vertrauen auf „Gerechtigkeit“ – ihre bedrückenden (Über)-„Lebens“-Geschichten erzählt, von Hunger, Gewalt, Krieg und Zerstörung, dem Verlust der Eltern, Geschwister und dem der eigenen Kinder. Die drei RichterInnen und SchöffInnen hörten durchaus interessiert zu. Auch sie lesen die Schlagzeilen anlässlich der „Dürrekatastrophe und Hungersnot in Somalia“. Dennoch sind sämtliche Anträge auf Haftverschonung bislang abgelehnt worden. Die Gefangenen müssen vier Euro pro Minute für ein Telefonat mit den Überlebenden ihrer Familien in den Flüchtlingscamps zahlen. Es ist spürbar nicht wirkliches Verständnis da. Schlimmer noch: alles, was sie „zur Sache“, also zu den Umständen der Kaperung des deutschen Containerschiffes unbekannter Ladung, sagen, wird gegen sie verwandt. In den diversen Ablehnungen ihrer Anträge wird von „Fluchtgefahr“ gesprochen, von „Fluchthelfern“, die gar nicht wissen, dass sie zu solchen werden könnten, aber auch von „empfindlichen Strafen“, die auf die Angeklagten zukommen. Das Höchstmaß für die Erwachsenen: 15 Jahre. Dasjenige für die Jugendlichen: zehn Jahre.

Nachdem sich zu Beginn des Prozesses sehr viel Zeit genommen wurde, um mehr als umstrittene Altersbestimmungsgutachten zu zelebrieren, nachdem Vertreter der Schiffsmannschaft gehört worden waren und die niederländischen Militärs samt Marinegeheimdienstmitarbeiter ausführlich ihre „Heldentat“ schildern konnten, nachdem BKA-Spezialisten ihre Spurensuche und weiße Gutachter die „Lage in Somalia“ geschildert hatten, erklärte die Staatsanwaltschaft, sie könne ihr Plädoyer halten, weil die Beweisaufnahme abgeschlossen sei. Zu diesem Zeitpunkt waren noch nicht einmal die Stellungnahmen der Jugendgerichtshilfe vorgetragen worden – obwohl es sich offiziell um ein Jugendgerichtsverfahren handelt - und es war kein einziger Entlastungszeuge gehört worden! Auch nur einen einzigen ausfindig zu machen, hatten Staatsanwaltschaft und
Gericht sich auch erst gar nicht die Mühe gemacht. Und die mühsamen Recherchen einiger VerteidigerInnen, um Zeugen in Somalia ausfindig zu machen, die belegen könnten, dass Angeklagte gegen ihren Willen zwangsrekrutiert wurden, wurden sämtlich ignoriert. Weil es kein funktionierendes Meldewesen in Somalia gibt, die Post nicht funktioniert, die deutsche Botschaft technisch angeblich nicht skypen kann, weil nicht eingeschätzt werden kann, wie lange einer braucht, um aus dem Bürgerkriegsgebiet von Somalia nach Hamburg zu kommen, werden alle Anträge abgelehnt. Dabei geht es auch im Fall von Zwangsrekrutierung um Unschuld, bzw. Freispruch.

Mensch bekam spätestens an diesem Punkt des Prozesses den Eindruck, dass, wäre es nach der Staatsanwaltschaft gegangen, sich der Umstand des Prozesses hätte gespart werden können –abgesehen vom medienwirksamen Auftakt und der Verlesung der Anklage „Kaperung eines Schiffes“ und „Menschenraub“. Das Urteil liegt offenbar von Anfang an griffbereit. Da kann das „Leben“ in dem weit entfernten Land noch so unmöglich und können die Interessen am Schutz der europäischen Handelsflotte, illegalem Fischfang und Müllentsorgung noch so aggressiv und kolonialistisch sein. Das ignorante Verhalten des Gerichts entlarvt den Prozess als rechtsstaatliche Farce. Nur noch die Höhe der Strafe scheint zu interessieren. Es soll ein Exempel statuiert, Abschreckung praktiziert, und der politische Auftrag, wie bei politischen Prozessen üblich, offenbar erfüllt werden…

Dabei hätte das Gericht die einmalige Chance, in die Geschichte der Rechtsprechung mit einem Freispruch einzugehen, der die wirklichen Gewaltverhältnisse bei der „Piraterie“ vor der Küste Somalias benennen würde. Es reichte schon, die eigene Inkompetenz bei der Beurteilung der Umstände einzugestehen. Aber Anträge auf „Befangenheit des Gerichts“ werden ebenfalls serienmäßig abgelehnt.


Eine Prozessbeobachterin, Hamburg, 9.1.2012
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Ergänzungen

@unglaublich

Zappa 05.02.2012 - 14:52
Außerhalb der 3-Meilenzone gilt kein Landesrecht, sondern internationales Seerecht. Selbst, wenn das somalische Recht das entern von Containerschiffen erlauben würde (was es nicht tut, sondern es sogar explizit verbietet), wäre das in diesem Fall nicht einschlägig. Im übrigen könnten "die Täter" auch in Somalia vor ein Gericht gestellt werden: Todesstrafe auf Piraterie.

Pirates Of Somlia

David Rovics 13.02.2012 - 00:37

Wer sind die wahren Piraten?

Frage 13.02.2012 - 00:39

Beiträge die keine inhaltliche Ergänzung darstellen

Zeige die folgenden 5 Kommentare an

Kundgebung am 4.2. für Leonard Peltier — Freiheit für Leonard

es ist unglaublich........ — ..............