Rekordflut in Amazonien - Was bedeutet das?

ArDaga C. Widor 07.06.2012 22:57 Themen: Bildung Medien Repression Soziale Kämpfe Weltweit Ökologie
Maria Conceição hat alles verloren. Das Wasser steht bis zum Zinkdach in ihrem Haus. Mit den drei jüngsten ihrer sechs Kinder ist sie den ganzen Tag in Codajás, 250km westlich von Manaus, unterwegs. Sie hofft, dass sie nun, mit dem einsetzenden Ende der Regensaison, „wieder mal bei Null anfangen“ kann. Sie sagt das lächelnd. Die Stoik der Leidenserfahrung. „Hilfe von der Stadtverwaltung?“, wiederholt sie die gestellte Frage, „Noch nie.“ Dann geht sie weiter, ein Kind an der Hüfte, die anderen beiden nebenher.
Unsere Hochachtung den Müttern von Codajás
Heldin, Beispiel der Mütter, die lieben, leiden und überwinden wie DU!!!
Mütter meiner Erde, Euch bieten wir unseren Respekt dar, Euch wünschen wir ein glänzendes Leben, mit Kraft und Überlegenheit, jetzt und in Zukunft.
Fühlen wir mit den Müttern, die ausser dem Leid des Lebenskampfes und der Aufzucht ihrer Kinder, viele auch noch zusätzlich leiden durch schon wieder eine grosse Überschwemmung. Dennoch; glücklichen Muttertag
BÜRGERMEISTEREI VON CODAJÁS – DEMOKRATISCHE VERWALTUNG

So prankt es in – nennen wir es – abenteuerlichem Portugiesisch von einem enormen, mit roten Herzchen unterlegten, Vierfarben-Plakat gleich am Hafen von Codajás.
Und an der dem Solimões-Fluss zugewandten Seite des leerstehenden „Kulturzentrums“ steht in Meterlettern die Begrüssungsformel „CODAJÁS LAND DES AÇAÍ - WILLKOMMEN“.

Erstere Botschaft ist an Zynismus kaum zu überbieten. Denn den Bürgermeister hat keine der seit zwei Monaten vom Hochwasser betroffenen Familien auch nur gesehen. Geschweige denn Hilfe erhalten. Zweiteres in diesen Wochen eher ein Wunschdenken. Denn in der Açaí-Stadt ist weder ein Saft, noch ein Eis aus dieser Amazonas-Galeons-Frucht, so en vogue und kaufbereit in den Märkten des Weltnordens, aufzutreiben.
Die Menschen, die ein paar Kilometer landeinwärts, entlang der unbefestigten Strasse Codajás-Anori, von der Açaífrucht leben, sitzen auf den Körben und Kisten geernteter Açaí fest, da die Strasse, schon seit der letzten grossen Überschwemmung 2009 ein Löchermeer, während der jetztigen neuerlichen Rekordüberschwemmung völlig unpassierbar geworden ist. Selbst für Allradantriebsfahrzeuge. Die geernteten Früchte sind sehr schnell vergänglich und Kühlhäuser bzw. Weiterverarbeitungsmöglichkeiten vor Ort gibt es nicht. Was zuletzt geerntet wurde, im Staat Amazonas kam die Überschwemmung ausgerechnet mitten zur Erntezeit (Jänner-August), verfault. Und Früchte die jetzt reif sind, können nicht geernet werden. Fallen direkt ins Hochwasser. Dieser Familien einzige ökonomische Lebensgrundlage ist in Schach, die der Auf- und Weiterverkäufer aus Codajás und somit der gesamte Kleinhandel der Stadt idem. Letztere haben aber, in der Regel, genug finanzielle Reserven, um nicht sofort an die Hungergrenze gestossen zu werden.
Isaias ist einer der Açaí-Auf- und Weiterverkäufer. Er verbringt die Tage nun auf den wenigen trockenen Strassenstücken der Stadt und wenn immer irgendjemand durch kommt, mit eingesackten Açaí, wird das Geschäft stante pede besiegelt. Wie ebenjetzt an einem Samstagvormittag, als es drei Männer, weiss Gott unter welchen Strapazen, per Fahrrädern geschafft haben, mit zwei Säcken anzukommen.

Codajás liegt am unteren Solimões, rund 250 Kilometer westsüdwestlich von Manaus. Wieviele Menschen in dieser Stadt des Açaí leben, weiss niemand so genau. Wohl um die 25.000. Wie‘s den hiesigen (Helden-) Müttern de facto geht, abseits des pompösen und die generelle Bildungssituation im Land wiederspiegelnden Willkommensplakats des Bürgermeisters, sieht mensch vor Ort überall. Auch in der rua Paulinho Gomes, keine zehn Gehminuten von den wenigen verbliebenen Strassenstücken über dem Wasserpegel im Zentrum. Die Gasse ist zwischen einem und zwei Metern tief überschwemmt. So wie die meisten anderen auch. Die Menschen haben in Eigenregie und –hilfe ein System aus Bretterstegen zusammengezimmert, um nicht vom Rest der Stadt abgeschnitten zu sein. Wer Holzlatten hatte bzw. sich leisten konnte, hat mit diesen einen Zwischenboden im Haus installiert. Um Menschen und Wertsachen wie Herd und Matratzen und TV am Trockenen hoch zu halten. Viele mussten diesen Zwischenboden bereits mehrfach abmontieren und erhöhen. Denn das Hochwasser bricht alle je gemessenen Rekorde. Auch die von 1954 und 2009.

Elisabete lebt seit 22 Jahren im Siedlungsgebiet Paraná do Careca, das zum 18.712 km² grossen Bezirk Codajás gehört. Doch wie schon 2009, während der vorhergehenden Rekordüberschwemmung, sind ihr Mann und ihre sechs Kinder zwischen 22 und sechs Jahren auch diesmal in die Bezirkshauptstadt geflüchtet. Eine Reise, die je nach Wetterbedingungen und den Lasten, die es zu schleppen gilt, zwischen 14 und zwanzig Stunden beansprucht. Über (oft überflutetes) Land und zu Wasser. Elisabete’s Familie gehört zu den „Glücklichen“ in der Not. Zwar haben auch sie zu hause alles verloren: Die Vorräte, den Anbau (Malve, Bohnen, Maniok, Kukuruz, Passionsfrucht, Papaya), und Luxusgüter wie Betten, Matratzen, Kleiderschrank und Herd. Doch haben sie in der rua Paulinho Gomes ihre eigene Bretterbude. Also einen Ort wohin sie gehen können. Und: sie gehören zu jenen Familien, die tatsächlich die staatliche Familienbeihilfe „bolsa família“ bekommen. Tatsächlich soll heissen: nicht nur auf Statistikpapier. Diese monatlichen 120 Reais (etwa 50 Euro) plus den 200 – 300 Reais die ihr Mann per Tagesgelegenheitsjobs, meist als Lastenträger beim (Aus-) Laden von Schiffen, im Monat erwirtschaften kann, sind die Überlebensgarantie der sechs. (Die zwei ältesten Söhne, 22 und 19, leben nicht mehr im Haus der Eltern.)
„Vom Bürgermeister haben wir hier nie etwas gesehen. Nicht einen einzigen Nagel, kein einziges Brett, keinen Sack [Maniok-] Mehl. Nichts. Im Fernsehen zeigen sie hin und wieder Hilfsaktionen. Aus anderen Städten. Von Codajás zeigen sie nichts. Wir haben uns selbst organisiert. Als es unmöglich wurde durch die Gasse zu waten, haben wir, wer konnte, zusammen gelegt, um Bretter und Nägel zu kaufen. Unsere Männer haben dann das Stegesystem von Haus zu Haus und zum Stadtzentrum hin, gezimmert. Da kam dann ein paar Tage drauf ein Typ von der Bürgermeisterei und begann zu filmen. Die stellen das nun sicher als ihre Arbeit hin. Aber die Wahrheit ist, dass dieser Bürgermeister [Agnaldo da Paz Dantas, seit Jänner 2009 im Amt] nichts tut. Die meiste Zeit ist er in Manaus. Wo er seine Immobilien ‚wundersam‘ vermehrt. Während wir hier für trinkbares Wasser zahlen müssen. Wer kann. Wer nicht kann..., Hepatitis, Weil-Krankheit, Durchfall und Fieber. Aber Gott sieht es. Jesus sieht alles. Es ist nur eine Prüfung...“ Elisabete ist eine „crente“. Eine der immer zahlreicher werdenen AnhängerInnen evangelikaler Kirchen in Brasilien.
Was, angesichts der lokalen katholischen Kirche, alles nur kein Wunder ist. Denn der padre von Codajás tut‘s dem Polit-Machthaber gleich. Nie ward er auch nur ein einziges Mal in den überschwemmten Vierteln gesehen. Und das einzige Merkbare was er – das dafür regelunmässig – beiträgt, ist der kreischende Soundterror, der aus den Lautsprechern am Kirchenturm quillt. Ein vielschichtiges Kreuz.
„Der hat Angst, dass er sich eine Krankheit holen könnte. Interessiert sich nur für Einnahmen für die Pfarre. Die Leute sind ihm wurscht. Ich bin katholisch, kein crente. Aber bei so einem padre beginn ich Martin Luther zu verstehen!“, sagt Wellington, Inhaber eines Gemischtwarenladens im Zentrum der Stadt. Gleich neben der Kirche.

Elson und Lucy und ihre zwei kleinen Kinder leben auf etwa sechs Quadratmetern. Den einzigen im Haus der Grossmutter Elson’s (die zu einer Freundin nach Manaus zog, um ihrem Enkel Überlebensraum bis zum Ende des Hochwassers zu geben), für die das Geld reichte, einen Bretterzwischenboden einzuziehen. Welcher mittlerweile auch schon wieder teilweise unter Wasser liegt. Seit zwei Monaten sind sie hier. Sie flüchteten eines Spätnachmittags aus Paraná das Onças, etwa drei Stunden Bootsfahrt von der Bezirkshauptstadt. Das Wasser war bereits über anderthalb Meter hoch in ihrer Hütte und stieg weiter rasant. Der gesamte Anbau und alle Vorräte waren vernichtet. Elson steuerte die Familie mit seinem Kanu bis hierher. Das Kanu, wichtigster Gegenstand im Leben von Selbstversorgerfamilien im Amazonas, ward anderntags, am Morgen nach der Ankunft, weg. Gestohlen. Seither ist selbst Fisch, der ja de facto, aber leider nur in Miniversionen, durchs Zimmer schwimmt, schwierig in den Essnapf zu kriegen. Ein Herd, zwei Hängematten. Ein paar Kleiderstücke. Das sind die verbliebenen Aktiva der jungen Familie.
„Familienbeihilfe? Kriegen wir nicht.“
Wie gibts das, im Land der sozialen Lulawunder?
„X-mal war ich schon auf der Bürgermeisterei, am Sozialamt [um die Beihilfe zu beantragen]. Immer sagen sie, ich soll morgen wiederkommen.“
Was Elson hier erzählt, ist nur Nicht-BrasilianerInnen bzw. potemkin’schen „KorrespondentInnen“ europäischer (Un-) Medien etwas Überraschendes oder Unbekanntes. Ich kenne es aus allen Gegenden in den Nordost- und Nordregionen Brasiliens. Mit den verschiedenen Beihilfen sind synchron Mafiasysteme entstanden, die diese Beihilfen an Parteikassen, politische MachthaberInnen und politische Günstlinge der jeweiligen Bezirke umleiten. Während sie in der Statistk – auch der Jubelstatistik der schlecht bedienten Erst-Welt-Medien – „den Armen“ zugute kommen. (Als ich selbst diese in Brasilien weithin bekannte Praktik einmal in der Stadt wo ich lebe anzeigte, wurde ich von der Staasanwaltschaft umgehend „freundlich darauf hin gewiesen“, dass auf Diffamation Gefängsnisstrafe steht. Die Anzeige selbst, wurde nie behandelt. Und solchen unlauteren Spielverderbern bzw. –erschwerern, kann auch schon mal ein jäher Unfall passieren. In diesem Land. Wo nichts, ausser der gigantischen Korruptionsmaschine, wie geschmiert funktioniert.)

Diese brasilienchronische Diskrepanz zwischen dem schon oben erwähnten Papier und den Tatsachen ist vielfach und –schichtig manifest im Land, auch im aktuellen Zusammenhang der Rekordflut. Seit Ende März vernehmen wir per TV- und Printmedien periodisch von (bis zu 88) Millionen Reais, die die Bundesregierung angeblich an Katastrophenhilfe für den Staat Amazonas zur Verfügung gestellt hat ( http://www.amazonasnoticias.com.br/oportunidade/2-amazonas/6357-amazonas-tera-r-88-milhoes-para-socorro-a-vitimas-da-enchente.html). Von Treffen der Bürgermeister der betroffenen Bezirke bzgl. der Aufteilung des Finanzkuchens ( http://blogdoprofessorcoariense.bigbrotherblog.com.br/49895/AJUDA-DO-GOVERNO-FEDERAL-AS-VITIMAS-DA-ENCHENTE-NO-AMAZONAS/). Und von den idem beachtlichen Diskrepanzen zwischen den Zählungen der in Not geratenen Familien. Je nachdem wer zählte. Die Defesa Civil (Bundesorgan), oder die Bürgermeisterei ( http://canalitacoatiara.com.br/2012/05/21/reuniao-define-repasse-da-ajuda-do-governo-federal-para-as-familias-atingidas-pela-enchente/). Und Bundesregierung sowie Landesfürsten von Amazonas beweihräuchern sich gegenseitig, ob der generösen Hilfe ( http://www.aleam.gov.br/ANMateria.asp?id=9061).

Wo nun aber tatsächlich all die Steuermillionen und 130 Tonnen Soforthilfsgüter ( http://extra.globo.com/noticias/brasil/vitimas-de-enchentes-no-amazonas-terao-ajuda-do-governo-federal-4852327.html) hingeflossen sind, kann jedenfalls keiner der Betroffenen in Codajás sagen.

Disrkrepanzen zwischen Wort und Fakt können noch so eklatant sein, sie fallen uns gar nicht mehr auf. Da kann auch Präsidentin Dilma ihr Wort brechen, und Änderungen am Waldschutzgesetz (Código Florestal) also nicht nur nicht mit ihrem Veto blockieren, sondern der Reduktion des gesetzlich festgelegten Waldschutzgürtels an Flussufern von 30 auf fünf (!) Metern zustimmen und tags darauf, zur Einstimmung auf Rio +20, in einer Rede auf die „grundlegende Wichtigkeit des Schutzes des Waldes entlang der Flussufer“ hinweisen ( http://www.estadao.com.br/noticias/vidae,dilma-lanca-pacote-que-cria-parques-e-nova-politica-para-terras-indigenas,882785,0.htm). Ohne dabei wenigstens rot zu werden. Und uns regt das auch nicht im Mindesten auf. So normal ist das.

Wahrscheinlich erhält also Elson’s Familie auch längst (und seit Jahren) Familien- und sonstige Beihilfen. Auf dem Statistikpapier halt. Und Ihr EuropäerInnen lest das dann in Euren Zeitungen und Magazinen so: „Xtausend haben‘s seit den letzten X Jahren geschafft, aus der Armutsfalle in den Mittelstand zu springen“.
Matrix tropical pur.
Und wer weiss, vielleicht – eher: wahrscheinlich – sind Elson, Lucy und die zwei Kleinen mitten dabei, dem Herrn Bürgermeister zu helfen, eine neue Immobilie in einem der Nobelviertel Manaus‘ zu erwerben.
Während solch unfreiwilliger doch systematischer Umverteilung von arm zu reich muss sich Elson Tag für Tag darum bemühen, ein Kanu von irgendeinem Nachbarn zu leihen. Um draussen, am Südufer des Solimões, ein paar grössere Fische fangen zu können. Das bringt Tageseinnahmen zwischen fünf und 30 Reais. Und also Weiteressen.

„Das einzige was wir von Bürgermeister wollen, ist, dass er endlich aufhört Versprechen abzugeben, und stattdessen etwas tut!“, sagt Lucy noch schnell zum Abschied, als ich mich durch die noch verbliebenen sechzig Zentimeter der Tür wieder auf die Steggasse rausfädle.

Alcilene kam am oberen Solimões zur Welt. In der Nähe von Tefé. Vor sechs Jahren ist sie mit ihrem Mann Miguel und den vier Kindern (7 – 12 Jahre alt) nach Codajás gezogen. Weil es hier, im Gegensatz zu den meisten abgelegeneren Orten beides hat. Schulgebäude und LehrerIn. (Auch die „Fortschritte im Bildungssektor“ sind so ein klassiches Hans-Christian-Andersen-Gebäude der Lula-Dilma-Regierungen. Die Bildungspolitik zu Brasilien ist und bleibt eine traditionell verwaltete, weil nützliche Katastrophe. Siehe auch:  http://ch.indymedia.org/de/2011/01/79471.shtml)
Miguel ist Zimmermann. Macht alles. Selbst Bootsbau. Da hats jetzt, mitten im Hochwasser, immer einen Pfusch parat. Er kommt auf seine fünf-, sechshundert Reais, etwas weniger als der „offizielle“, besser: illusorische Mindestlohn pro Monat. Und fix angestellt, mit allen Papieren und drum und dran, will er nicht mehr arbeiten. Seit ihm die letzte Firma aus Manaus, wie vielen anderen Kumpeln auch, einen Grossteil der Gehälter für ein Jahr und sieben Monate Maloche schuldig geblieben ist. Arbeitsgericht? „Aber geh, so was gibts doch nicht für unsereinen! Die Justiz ist nur für die Grossen da. Ich hab kein Geld, noch Zeit Jahre in Manaus herum zu streiten. Für nix und wieder nix. Ich muss arbeiten. Die Familie ernähren. Hier!“

„Wir kriegen 134 Reais Kinderbeihilfe pro Monat zusammen für unsere vier“, ergänzt Alcilene, „aber unsre Älteste ist krank. Wahrscheinlich vom Wasser. Hat Fieber und Durchfall. Das meiste geht für Medikamente drauf. Nicht mal die Schuluniformen, kosten etwa 25 Reais pro Kind, können wir kaufen.“

Die kostenlose Schul“bildung“ in unserem Land ist genauso wenig ein Faktuum, wie alles andere, was uns die hübsche Verfassung aus 1988 papier-garantiert. Und immer wieder werden Kinder ausgesperrt, weil sie keine Uniform haben, oder keine Schuhe. Aber auch davon lest Ihr sicher nichts. In Euren von KorrespondentInnen, die in irgendwelchen Hochsicherheitsurbanvierteln abgschottet, und also berürungs- und wissenslos vom Graswurzel-Brasilien, gut leben, bedienten „Intelligenz-Medien“.

„Einige meiner Verwandten vom Land sind nach Manaus oder Anori weiter geflüchtet. Dort gibt es, wenigstens hin und wieder, Hilfe. Medikamente, Decken, Benzin [für Fischerboote], Lebensmittel, Holz. Hier gibts überhaupt nichts. Agnaldo [der Bürgermeister] verbringt die meiste Zeit in Manaus. Es hat gar keinen Sinn, ihn [hier] zu suchen. Selbst für unser Trinkwasser müssen wir bezahlen. Und das dicke Ende kommt noch. Nämlich wenn das Wasser, so Gott will, zurück zu gehen beginnt. Das wird dann das Fest der Mücken. Mit Malaria, Dengue und allem.“
Alcilene hat empirische Erfahrung. Als Überlebenskünstlerin im tatsächlichen Brasilien.

DAS sind die „Helden-Mütter“ von Codajás. Sie wollen die faulen Wünsche ihres Plakatbürgermeisters nicht.

Das Siedlungsgebiet Badajós, rund 100 km nordwestlich von Codajás am von den Flüssen Cunuauru und Badajós geformten See, umfasst 12 Siedlungen. Es ist das am dichtesten besiedelte Gebiet im Bezirk, das nicht direkt am Solimões-Fluss liegt. Moises ist aus einer der nördlichsten, höchstgelegenen Siedlungen. Dort haben die Menschen kaum etwas eingebüsst. Das Wasser hat es weder bis in die Häuser, noch in die Anbauflächen geschafft. Moises kann also weiterhin Maniokmehl und Açaí per Linien-Boot in einer Zwölfstundenfahrt in die Bezirkshauptstadt schaffen, dort verkaufen, und im Gegenzug jene Güter kaufen, die sie nicht selbst herstellen. „Warum sollte ich hier in der Stadt leben wollen? Ich kenne so viele, die wegen der Strapazen aufgegeben haben [aufgeben mussten] und in die Stadt gegangen sind, nach Codajás, auch nach Manaus. Dort sitzen sie den ganzen Tag rum, denn Arbeit gibt es nicht. Und auch kein Land zu bestellen. In kürze beginnen sie zu trinken und Zeug [Marihuana und Crack] zu rauchen und schon müssen sie überfallen gehen, um sich am Weiterleben zu erhalten. Ein paar sind schon im Knast. Wo sie als Möder wieder rauskommen. Da ist‘s mir doch lieber meine Kinder bleiben auf dem Land. Auch ohne Strom und abgeschnitten von allem.“

Maria Conceição ist aus einem der unteren Flecken Badajós. Sie hat alles verloren. Das Wasser steht bis zum Zinkdach in ihrem Haus. Mit den drei jüngsten ihrer sechs Kinder ist sie den ganzen Tag in Codajás unterwegs. Auf der Suche nach Lebensmittel bzw. Hilfe. Schon seit über einen Monat ist sie hier, hat Unterschlupf in einer Bretterhütte bei Freunden gefunden, und hofft, dass es nun, mit dem Ende der Regensaison, bald wieder nach hause geht. „Um wieder mal bei Null anzufangen.“ Sagt sie lächelnd. Die Stoik der Leidenserfahrung. „Hilfe von der Stadtverwaltung?“, wiederholt sie die gestellte Frage, „Noch nie.“

Ich bin nun den sechsten Tag in Codajás. Den Bürgermeister fand ich nie. „Er ist in Manaus. Beim Gouverneur, Hilfe organisieren“, so die stereotype „Antwort“formel seitens diverser MachthausmeisterInnen. Wann er denn wieder käme? „Morgen, wahrscheinlich.“ Amanhã, ein brasilianisches Wort so dehnbar, wie der Mr.Fantastic der Fantastischen Vier. Obschon er bisweilen, zumindest kurzfristig, doch in „seiner“ Amts- und Würdenstadt auftaucht. Jeremias und Francisca, seit 30 Jahren durch dick und dünn zusammen, haben, 2008, für Herrn Agnaldo gewählt. „Er ist hier bei uns im Haus gewesen. Hat mit uns Kaffee getrunken. Ist an unsrer Hängematte gestanden, hat um unsere Stimmen gebeten“, erzählt Jeremias. „Als wir letzte Woche ins Rathaus sind, um ihn um Hilfe [für Medikamente, denn Jeremias leidet an stark überhöhtem Blutdruck] zu bitten, hat uns sein Bodyguard raus befördert...“ Jeremias ist – empirisch – geläutert: „Es ist völlig wurscht wen du wählst. Es ist immer das selbe. Erst, wenn sie dich brauchen, kommen sie, umarmen dich, lügen dich an. Gewählt, brauchen sie dich nicht mehr. Wollen nichts mehr mit dir zu tun haben. Selbst, wenn du, wie jetzt wegen des Hochwassers, alles verloren hast und nicht arbeiten kannst, weil dein Stück Land unter Wasser ist.“

„Wen sie uns wenigstens noch wie Menschen behandeln würden. Wir können nur beten, denn wer ernsthaft erkrankt, hat entweder Geld, um es in ein Spital in Manaus zu schaffen, oder er stirbt“, fügt Francisca hinzu.

Ihr Gefährte erläutert: „Unser Spital hier ist die Durchgangsstation zum Friedhof. Der „Arzt“ – um Gottes Willen! – ein noch grösserer Ignorant, als wir selbst. Du kommst mit einer Lungenentzündung hin und kriegst, wenn überhaupt was, ein Beruhigungsmittel. So ist das bei uns!“

Rebecca ist achtzehn. Im letzten Schuljahr. „Ärztin will ich werden. Aber auch Theater spielen. Oder Tourismus studieren. Denn mein Traum ist Reisen. Andere Sachen kennen lernen. Auf jeden Fall will ich weg hier. In eine grosse Stadt. Wo’s wenigstens eine Chance auf Studium und Arbeit hat.“ So wie schon bei der vorangegangen Rekordüberschwemmung 2009 hat sie auch diesmal wieder einen juckenden Hautausschlag am ganzen Körper. „Mein Grossvater hat mich gewarnt. Wenn das Wasser zu hoch steigt, erreicht es die Mülldeponien. Wo selbst unser Spitalmüll reingeworfen wird. Da holst du dir dann alle möglichen Sachen. Schlimmer ergings meinem Freund S. Der hat sich die Weil-Krankheit eingefangen. Hat wohl beim Schwimmen Rattenpisse in den Mund bekommen. Sie haben ihn noch nach Manaus geschafft. Ob er noch am Leben ist, wissen wir nicht.“

Während ich über die Selbsthilfestege durch die überschwemmten Vierteln balanciere, sehe ich immer wieder Kinder im Wasser der (Ex-) Gassen planschen und schwimmen. In all den Exkrementen und Abfällen die direkt aus den Häusern ins Wasser abgehen.

Und die UreinwohnerInnen? Wo sind die Cudaiá (NamensgeberInnen von Codajás) und Mouras?

„Indianer? Indianer gibts hier keine mehr. Nur uns selber. Aber wir sind keine Wilden. Wir sind schon zivilisiert, gezähmt“, erklärt Wellington. Und bestätigt damit das in ganz Brasilien in den Köpfen der Menschen verankerte typische Umkehrbild der jeweiligen Gesellschaften. Während in den ursprünglich indigenen die solidarische und egalitäre Ordnung (nicht nur) Naturkatastrophen erträglicher für alle machten, ist es in der zivilisierten, also nicht-indigenen Gesellschaft, so, dass die von ihrem destruktiven Lebensstil meist erst verursachten oder mit-verursachten Katastrophen ein Geschäftszweig der politischen Macht sind und zu einer noch weiter auseinander klaffender Sozialschere mit einhergehender Gewaltspirale führen. Wilde hie, Zivilisierte da. Eine permanente nationale Begriffsverwirrung.

Aus dem tatsächlichen Brasilien,
ArDaga C. Widor
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